Die 4LP-Box und mehr von Keith Jarrett und ECM Records finden Sie in unserem JazzEcho-Store.
Am 16. September 1992 bereitete das Deer Head Inn, ein kleiner Jazzclub im Delaware Water Gap in Pennsylvania, seinem Publikum einen unvergesslichen Abend. Auf dem Programm stand ein einzigartiger Auftritt von Keith Jarrett mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Paul Motian. Obwohl der Pianist mit beiden zuvor schon oft separat gespielt und zahlreiche Aufnahmen gemacht hatte, waren sie nie in dieser Konstellation aufgetreten. Und es sollte auch der einzige Auftritt dieses Trios bleiben. Das Konzert, bei dem das Trio das Publikum auf eine fantasievolle Reise durch die Welt der Jazzstandards mitnahm, wurde damals von einem alten Freund des Pianisten vollständig mitgeschnitten: dem Schlagzeuger Bill Goodwin, mit dem Jarrett Anfang der 1970er Jahre in der Band von Gary Burton zusammengespielt hatte.
1994 veröffentlichte Jarretts Hauslabel ECM Records das Album "At The Deer Head Inn", das von der Presse begeistert aufgenommen wurde. "Die Musik hat den Schwung und unverblümten Lyrismus von Keith Jarretts besten Werken", schwärmte Stereophile. Un AllMusic: "Die einfallsreichen Interpretationen bieten den Hörern viele Überraschungen und Abwechslung und machen dieses Album zu einem wahren Vergnügen." Dreißig Jahre nach der Veröffentlichung von "At The Deer Head Inn" erschien im November 2024 unter dem Titel "The Old Country (More From The Deer Head Inn)" ein zweites Album von diesem historischen Konzert. Und auch diesmal war das Pressecho überwältigend. Karl Lippegaus schrieb im FonoForum: "Nicht nur das zwölfminütige ‘The Old Country’ mit seiner verblüffenden fünfminütigen Schlusspassage zeigt: Diese Auswahl ist alles andere als zweite Wahl [...] eine herausragende, Jazzgeschichte abbildende Aufnahme."
Am 22. August werden beide Alben nun zusammen und zum allerersten Mal auf Vinyl veröffentlicht. Die beiden Doppel-LPs mit einer Gesamtlaufzeit von fast zweieinhalb Stunden sind in hochwertige Tip-On-Gatefold-Hüllen verpackt, die wiederum in einem Deluxe-Schuber stecken. Da dieses Boxset mit dem Titel "At The Deer Head Inn - The Complete Recordings" weltweit in einer streng limitierten, einmaligen Auflage erscheint, empfehlen wir allen Jarrett-Fans, es sobald wie möglich vorzubestellen. Eine Nachauflage dieses Boxsets wird es nicht geben.
Das Album auf 2LP und als Sonderedition mit Art Card und mehr von Keith Jarrett und ECM Records finden Sie in unserem JazzEcho-Store.
Am 8. Mai feierte Keith Jarrett, der sich 2018 aus gesundheitlichen Gründen von der Konzertszene verabschieden musste, seinen 80. Geburtstag. Annähernd 50 Jahre lang – von seinem Solo-Debütalbum "Facing You" aus dem Jahr 1971 bis zu den berauschenden Konzertaufnahmen aus München, Budapest und Bordeaux aus dem Jahr 2016 – hatte Jarrett für den Produzenten Manfred Eicher und das Münchner Label ECM Records unzählige Alben eingespielt, die ihn als einen der prägendsten Jazzpianisten und größten Improvisatoren des 20. und 21. Jahrhunderts etablierten. Pünktlich zum runden Geburtstag des Ausnahmekünstlers brachte ECM zur mit "New Vienna" eine vierte Live-Aufnahme von Jarretts letzter Solo-Europatournee heraus. Die Auftritte, von denen damals niemand ahnte, dass es seine letzten sein würden, hatten hymnische Konzertkritiken in der internationalen Presse geerntet. Nun ist "New Vienna" auch als Doppelalbum auf Vinyl erhältlich - im JazzEcho-Store als exklusive Edition mit Art Card. Aus diesem Anlass haben wir hier einige aktuelle Albumkritiken zu "New Vienna" zusammengestellt.
Das Magazin AUDIO Stereoplay kürte das Album zum Jazz-Highlight. In seiner Rezension schrieb Autor Ralf Dombrowski: "Er wollte sich immer auch selbst überraschen. Keith Jarrett brauchte dazu das Publikum, maßregelte es gerne, schätzte es aber auch als Echoraum seiner eigenen Kreativität. Er war stets mehr Konzertpianist als ein Mann des Aufnahmestudios. Während seiner letzten Solo-Tournee durch Europa 2016 machte er auch im Wiener Konzerthaus Station. ‘New Vienna’ ist ein in neun Einzelbilder plus Zugabe aufgeteiltes Live-Programm, das den Meister in seinen Facetten vom Melodiker über den Dekonstruktivisten und Blues-Intellektuellen bis zum Klangwühler und Feintöner präsentiert. Keith Jarrett gönnte sich die Freiheit der spontanen Musikentwicklung. Der Maestro wollte nichts planen, und so wurde auch ‘New Vienna’ ein überraschendes, oft mitreißendes Konzert."
In der Mittelbayerischen Zeitung notierte wiederum Ulrich Steinmetzger: "2017 zog sich Jarrett aus dem Konzertleben zurück. Im Archiv von ECM aber schlummern noch Schätze, so auch der nun veröffentlichte Auftritt vom 9. Juli 2016 im berühmten Goldenen Saal des Wiener Musikvereins. Es ist der zweite auf CD erschienene Wien-Auftritt Jarretts nach dem in der Staatsoper im Juli 1991. Damals waren es zwei weit ausholende Stücke in einem fast 70-minütigen Rezital, in der jüngeren Aufnahme sind es neun in sich geschlossene Spontankompositionen, gefolgt von einer berückenden Version von Jarretts Lieblingszugabe ‘Somewhere Over the Rainbow’. Das Kleinteiligere kennzeichnet Jarretts solistisches Spätwerk, bei dem er mit den Kräften haushalten musste. Doch auch auf dieser letzten Solotour ist kaum zu glauben, welche melodiösen Preziosen er dem Moment abringt. Entstanden sind wunderschöne Stücke, die zu immer neuem Hören einladen. Nach einem dichten Clusterhagel zu Beginn, schwelgt Jarrett in Melodien, schichtet Rhythmen, verwebt gegenläufige Muster, entwickelt Lyrisches, intoniert Blues, lässt Gospel und Country irrlichtern und fügt das alles zu einer großen Suite – außergewöhnlich wie immer und eindringlich schön."
Im Magazin Rondo hob Werner Stiefele besonders die "immense Fantasie und Bandbreite des Pianisten" hervor und schrieb , dass er nach eigener Aussage "jedes Solokonzert ohne die geringste Ahnung dessen eröffnet, was er in den nächsten ein bis zwei Stunden tun wird. Keine Themen, keine Stimmungen, kein Plan. Alles offen. Wenn’s gut geht, wird ein spannender, ereignisreicher Konzertabend daraus. Der 9. Juli 2016 war ein solcher Tag. Jarrett holt ein paar Töne aus dem Flügel, setzt weitere hinzu, verschränkt sie mit anderen, baut Linien, rumort ein wenig in den Tiefen, rast über die Höhen, und allmählich entsteht eine vehement pulsierende Struktur von Begegnungen. Ein leiser, zögernder ‘Part II’ folgt, dann ein von widerstreitenden Rhythmen der linken und rechten Hand geprägter ‘Part III’. Ein zarter, lyrischer, schwebender ‘Part IV’ und ein balladenartiger ‘Part V’ bringen den Auftritt in geruhsamere Bahnen. Mit ‘Part VI’ kehrt Jarrett zum kantigeren, verschränkteren Spiel zurück, wechselt mit ‘Part VII’ wieder zum Balladenklang und lässt sich in ‘Part VIII’ auf einen kraftvollen Blues ein. In ‘Part IX’ scheint dann seine heitere, von Country, Gospel und Folksongs beeinflusste Seite durch. Was noch fehlt, ist die Zugabe. Indem Jarrett das Thema des Jazzstandards ‘Somewhere Over The Rainbow’ von Harold Arlen mit viel Liebe zur Melodie variiert, ist die Phase der ergebnisoffenen Improvisationen vorbei. Verträumter kann ein anfangs impulsives Konzert kaum enden."
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Budapest, Bordeaux, Wien, Rom und München waren die Stationen der letzten Europatournee von Keith Jarrett im Juli 2016. Danach gab der Pianist nur noch ein Solokonzert am 15. Februar 2017 im Isaac Stern Auditorium der Carnegie Hall in New York. Es sollte, wie sich später herausstellte, sein allerletztes Konzert sein. Als erstes Album der Europatournee erschien 2019 "Munich 2016" mit dem Konzert, das Jarrett am 16. Juli 2016 in der Münchner Isarphilharmonie im Gasteig gegeben hatte. "‘Munich 2016' zeigt Jarrett von seiner geschmeidigsten und einfallsreichsten Seite", schrieb Mike Hobart in der Financial Times. "Der Pianist setzt die Kernelemente seiner Ästhetik auf frische und unerwartete Weise neu zusammen." Bereits ein Jahr später wurde mit "Budapest Concert" ein zweiter Konzertmitschnitt der Tournee veröffentlicht, über den Peter Rüedi in der Weltwoche schrieb: "Das neue Album präsentiert einen Jarrett auf dem Gipfel seiner Kunst… ‘Budapest’ könnte sein Testament sein, dieses Rezital von stupender Vielseitigkeit..." Zur gleichen Zeit wurde durch einen Artikel in der New York Times bekannt, dass Jarrett seine Karriere für beendet erklären musste, da er Anfang 2018 zwei Schlaganfälle erlitten hatte, von denen er sich leider nie wieder vollständig erholte. Umso erfreuter war die Musikwelt, als 2022 mit dem "Bordeaux Concert" eine weitere brillante Live-Aufnahme aus dem Jahr 2016 erschien. "‘Bordeaux Concert’ enthält mehrere hymnenartige Meditationen, die so vollständig wirken, dass man sie für durchkomponiert halten würde, wenn sie von jemand anderem gespielt würden", bemerkte James Hale in DownBeat. Anlässlich des 80. Geburtstags von Keith Jarrett am 8. Mai erscheint nun "New Vienna", das vierte Album dieser Tournee.
Warum "New Vienna"? Wie Jarrett-Kenner wissen, gibt es in seiner Diskografie bereits ein legendäres Wien-Konzert, das 1991 in der Wiener Staatsoper aufgezeichnet und ein Jahr später von ECM unter dem Titel "Vienna Concert" veröffentlicht wurde. In den Liner Notes zu diesem "Vienna Concert" schrieb Keith Jarrett damals: "Ich habe das Feuer sehr lange umworben, und in der Vergangenheit sind viele Funken geflogen, aber die Musik dieser Aufnahme spricht endlich die Sprache der Flamme selbst." Als Keith Jarrett am 9. Juli 2016 in die österreichische Hauptstadt zurückkehrte, ließ er die Flammen der Inspiration an einem anderen historischen Ort mit lebendiger Akustik wieder auflodern. Diesmal trat er im Goldenen Saal des Musikvereins auf, wo zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Werke von Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern uraufgeführt wurden, die den Kurs der modernen Musik verändern sollten. Die Musik, die Keith Jarrett bei seinem Auftritt im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins aus dem Stegreif formte, war von einer geradezu enzyklopädischer Bandbreite. Die langen Formen, die Jarretts frühere improvisierte Solokonzerte kennzeichneten (von "Solo Concerts: Bremen/Lausanne" über "The Köln Concert" und das erste "Vienna Concert" bis hin zu den 1996 entstandenen Aufnahmen der 4-CD-Box "A Multitude Of Angels"), waren in der letzten Phase seines Konzertlebens Darbietungen kürzerer, in sich geschlossener und kontrastierender Stücke gewichen, die in ihrer Gesamtheit oft einen suitenartigen Charakter besaßen. Und so war es auch am 9. Juli 2016 im Wiener Musikverein.
In "Part I" entfacht Jarrett einen spontanen Wirbelsturm aus Klängen, aufbrausend, dicht und vielschichtig - ungestüm wie eine Naturgewalt. In "Part II" lässt er zunächst Akkorde in der Stille schweben, bevor er langsam eine nachhallende Melodie entwickelt. Die Rhythmik steht hingegen in "Part III" im Vordergrund; Jarrett demonstriert hier seine herausragende Fähigkeit, mit jeder Hand äußerst unabhängig zu agieren und ineinander verwobene Muster zu entwickeln.
"Schon nach den ersten drei Stücken wurde deutlich, worin Jarretts große Stärke besteht", bemerkte Helmar Dumbs in seiner Konzertkritik in der österreichischen Zeitung Die Presse: "Er vermag es, scheinbar die Zeit außer Kraft zu setzen und (…) dem Publikum sein Zeitmaß aufzuzwingen. Eines, dem man sich getrost überantworten kann. Über viele Minuten schafft es Jarrett etwa im zweiten Teil, die Linien in beiden Händen in einer unglaublichen Spannung gegeneinanderzuführen. Die intensive Beschäftigung mit Bach hat hier hörbar ihre Spuren hinterlassen. Bezwingend, wie es Jarrett immer wieder gelingt, zunächst zufällig erscheinende Bewegungen ganz unmerklich zu einem Pfad zu verdichten, der sich dann in der Rückschau ganz zwangsläufig ausnimmt."
In "Part IV" findet Jarrett zu hymnischer Andächtigkeit, während "Part V" eine pure Balladendichtung mit perlenden Läufen und frei schwingenden, fantasievollen Melodiebögen ist. In "Part VI" verändert der Pianist die lyrische Grundstimmung und schafft abstraktere Klanggebilde. "Part VII" ist ein berührend schönes Stück, das auch gut in das Repertoire von Jarretts legendärem Belonging-Quartett gepasst hätte. Mit erdigem Blues überrascht der Pianist in "Part VIII", bevor er uns in "Part IX" mit seinen Country- und Gospelanklängen daran erinnert, wie allumfassend seine musikalischen Visionen sein können. Das Programm endet mit "Somewhere Over The Rainbow", einem Standard, den Jarrett bei seinen Konzerten oft als Zugabe spielt. Wie nicht anders zu erwarten, phrasiert er das Stück diesmal etwas anders als in den ebenfalls großartigen Versionen, die auf den Alben "La Scala", "A Multitude Of Angels" und "Munich 2016" zu hören sind.
Weitere Veröffentlichungen mit Musik von Keith Jarrett sind in Vorbereitung.
Das Album auf 2LP und als Sonderedition mit Art Card und mehr von Keith Jarrett und ECM Records finden Sie in unserem JazzEcho-Store.
"New Vienna" ist ein beeindruckender Konzertmitschnitt von Keith Jarretts letzter, triumphaler Solotournee durch Europa. Das Album, das am 30. Mai erscheinen wird, erhielt seinen Titel, weil es - wie jeder Jarrett-Aficionado wissen dürfte – in der umfangreichen Diskografie des Pianisten bereits ein legendäres Album mit dem Titel "Vienna Concert" gibt. Es entstand 1991 bei einem Soloauftritt in der Wiener Staatsoper. Von der Musik dieses Albums hat der Künstler einmal gesagt, dass sie "die Sprache der Flamme selbst spreche", nachdem er jahrelang "das Feuer umworben" habe. Als Keith Jarrett am 9. Juli 2016 in die österreichische Hauptstadt zurückkehrte, ließ er die Flammen der Inspiration an einem anderen historischen Ort mit lebendiger Akustik wieder auflodern. Diesmal trat er im Goldenen Saal des Musikvereins auf, wo zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Werke von Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern uraufgeführt wurden, die den Kurs der modernen Musik verändern sollten.
Die Musik, die Keith Jarrett in Wien aus dem Stegreif formte, war von einer geradezu enzyklopädischer Breite. Wie in der letzten Phase von Jarretts Konzertleben üblich, bestand das Programm aus kürzeren, in sich geschlossenen und stark kontrastierenden Stücken, die in ihrer Gesamtheit aber einen fast schon suitenartigen Charakter annahmen. Einer der Höhepunkte des Konzerts war nach Meinung vieler im Publikum "Part V", eine wunderbare zehnminütige Ballade, wie sie nur Keith Jarrett ad hoc erfinden kann. "Was von diesem bemerkenswerten Abend in Erinnerung bleibt", konnte man hinterher in der lokalen Berichterstattung lesen, "ist wie Jarrett wahrhaft erhabene Musik schuf, in und aus dem Moment heraus, in dem er sie spielte, so zart, kostbar und flüchtig."
Zum 80. Geburtstag des Pianisten am 8. Mai erscheint "Part V" nun vorab als Single. In einer Mitteilung von Keith Jarretts Label ECM Records heißt es: "Anlässlich dieses runden Geburtstags blicken wir mit Dankbarkeit auf eine außergewöhnliche musikalische Reise zurück, die in einer Diskografie von beispielloser kreativer Bandbreite dokumentiert ist. Bei ECM begann die Geschichte 1971 mit ‘Facing You’ - der ersten von vielen Kollaborationen des Pianisten mit dem Produzenten Manfred Eicher - und sie setzt sich mit dem in wenigen Wochen erscheinenden ‘New Vienna’ fort."
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Unter Fachleuten, Hörern und Musikerkollegen herrscht seltene Einigkeit: "The Köln Concert", Keith Jarretts zweite Soloklavier-Konzertaufnahme nach "Solo-Concerts Bremen/Lausanne", ist schlicht ein Meilenstein. Nicht nur im Schaffen des Pianisten, sondern in der gesamten Jazzgeschichte. Bereits im Erscheinungsjahr wurde das Doppelalbum mit großer Begeisterung aufgenommen: "Die Fingerfertigkeit ist oft verblüffend, die Melodien sind ansteckend, die Klavierarrangements sehr facettenreich, die rhythmischen, sich scheinbar selbst antreibenden Stomp-Passagen wunderbar lebendig", schrieb DownBeat in seiner Rezension und verlieh "The Köln Concert" die Bestnote von fünf Sternen. Das Time Magazine nahm das Album 1975 in seine Jahresbestenliste auf und urteilte: "Lange, kunstvoll ausgearbeitete Klaviersoli verleihen der alten Kunst der Improvisation eine neue Dimension." Und der Rolling Stone schwärmte: "‘Köln’ ist ein komplettes Soloklavierkonzert. Die Strömungen von Klassik, Barock, Gospel, Boogie und Impressionismus [...] wurden hier nahtlos zu einem Ganzen von unbestreitbarer Brillanz verschmolzen. [...] Fast jeder müsste sich von dieser Musik sofort angezogen fühlen, und das ist das wirklich Erstaunliche an Jarrett."
Im Magazin des französischen Online-Musikdienstes Qobuz schrieb Marc Zisman vor kurzem anlässlich des runden Jubiläums von "The Köln Concert": "Der Keith Jarrett des ‘Köln Concert’ ist einzigartig: in seiner Herangehensweise, in seinem Klang und in der Art, wie er seine Themen entwickelt. [...] Die ersten fünf Töne, mit denen der amerikanische Pianist beginnt, sind übrigens die, mit denen das Opernhaus den Beginn des Konzerts ankündigte! Der unergründliche Melodienstrom, der darauf folgt, wird von einer fließenden rechten Hand getragen und zieht das Publikum von Anfang an in seinen Bann. Die kristallklaren Gewässer werden durch nichts getrübt: Es gibt nur Jarretts Finger, die liebevoll ein schlichtweg wunderschönes melodisches Gerüst streicheln, das zwischen Jazz, Folk, Gospel und Klassik hin und her gleitet. Weit entfernt vom traditionellen Jazz-Kanon, drückt er sich eher durch repetitive Motive als durch strukturierte Akkordfolgen aus, die in manchen unerwarteten Momenten an die Regeln der Popmusik erinnern."
Das Live-Album "At The Dear Head Inn", das Keith Jarrett am 16. September 1992 mit Gary Peacock und Paul Motian im Deer Head Inn eingespielt hat, nimmt unter all den Aufnahmen, die der Pianist der Auseinandersetzung mit Jazzstandards und dem "Great American Songbook" gewidmet hat, eine Sonderstellung ein. Mit "The Old Country" erscheint nun ein weiteres Tondokument von demselben Konzert, das ebenfalls in mehrfacher Hinsicht von großer historischer Bedeutung ist.
Idyllisch in den Pocono Mountains am Delaware Water Gap in Pennsylvania gelegen, bietet das Deer Head Inn neben Übernachtungsmöglichkeiten schon seit 1950 kontinuierlich Live-Musik und ist damit einer der ältesten Jazzclubs der USA. 1961 gab der Club dem damals 16-jährigen Keith Jarrett die Gelegenheit, zum ersten Mal mit einem eigenen Trio vor Publikum aufzutreten. Als die Besitzer Bob und Fay Lehr 1992 in den Ruhestand gingen und die Leitung an ihre Tochter Dona und ihren Schwiegersohn Christopher Solliday übergaben, bot Keith Jarrett an, erneut dort aufzutreten, um das anhaltende Engagement des Clubs für den Jazz zu würdigen.
Wenig überraschend spielte Keith Jarrett mit Gary Peacock und Paul Motian vor ausverkauftem Haus. Die Veranstaltung war nicht beworben worden, aber die Nachricht von dem bevorstehenden Konzert verbreitete sich durch Mundpropaganda wie ein Lauffeuer. The Morning Call, die Lokalzeitung von Jarretts Heimatstadt Allentown, berichtete später: "Von den 130 Leuten im Club mussten 30 stehen. Und draußen auf der Veranda drängten sich weitere 50 oder 60 Leute".
Das spontan organisierte Konzert bot damals die einzige Gelegenheit, Jarrett in dieser Konstellation live zu erleben. Der Bassist Gary Peacock war zu dieser Zeit ein engagiertes Mitglied von Jarretts sogenanntem Standards Trio, das durch Jack DeJohnette vervollständigt wurde. Schlagzeuger Paul Motian wiederum hatte den Pianisten 1967 zusammen mit Charlie Haden bei der Einspielung seines allerersten Soloalbums "Life Between the Exit Signs" begleitet und war danach sechs Jahre lang Mitglied von Jarretts American Quartet, das unter anderem auf den ECM-Alben "The Survivors Suite" und "Eyes Of The Heart" zu hören ist. Doch seit der Auflösung dieser Gruppe im Jahr 1976 hatte Motian nicht mehr mit Jarrett zusammengearbeitet. "Ich war nicht nur seit 30 Jahren nicht mehr als Pianist im Deer Head aufgetreten, sondern hatte auch seit 16 Jahren nicht mehr mit Paul Motian zusammengearbeitet. Es war also wie eine Wiedervereinigung und zugleich eine Jamsession", schrieb Jarrett in den Liner Notes des Albums "At The Deer Head Inn", auf dem 1994 eine erste Auswahl des bei diesem historischen Auftritt mitgeschnittenen Materials veröffentlicht wurde.
Das "Deer Head Inn"-Projekt ließ noch eine weitere alte Freundschaft Jarretts wieder aufleben. Denn die Idee, das Konzert aufzuzeichnen, stammte von dem Schlagzeuger Bill Goodwin, der auf dem Cover auch als Produzent genannt wird. Goodwin hatte 1970 bei der Aufnahme des Albums "Gary Burton & Keith Jarrett" für Atlantic mitgewirkt und war später zum Quartett des Altsaxofonisten Phil Woods gestoßen, das viele Jahre lang regelmäßig im Deer Head Inn auftrat. Eigentlich wollte er das Konzert nur für Keiths persönliches Tonarchiv dokumentieren. Doch als der Pianist die Aufnahmen hörte, war ihm sofort klar: "Das muss veröffentlicht werden... Ich glaube, dass man auf dieser Aufnahme gut hören kann, worum es im Jazz geht."
Als "At The Deer Head Inn" 1994 veröffentlicht wurde, stimmte die Presse der Einschätzung des Pianisten zu. "Die Musik hat den Schwung und die unerschrockene Gefühlsbetontheit von Keith Jarretts besten Werken", schrieb Stereophile. Gramophone hob unterdessen das "fesselnde" Zusammenspiel hervor, während die Los Angeles Times die Aufnahme als "ein Kompendium der Anmut" lobte.
Dreißig Jahre nach der Veröffentlichung von "At The Deer Head Inn" hielten es Keith Jarrett und Manfred Eicher für an der Zeit, sich den kompletten Konzertmitschnitt noch einmal anzuhören. Für das Album "The Old Country", dessen Untertitel "More From The Deer Head Inn" auf das Vorgängeralbum verweist, wählten sie acht bisher unveröffentlichte Stücke aus. Das Repertoire umfasst mit "Everything I Love" und "All Of You" gleich zwei Stücke von Cole Porter, "Straight No Chaser" von Thelonious Monk, "I Fall In Love Too Easily" von Jule Styne, "Someday My Prince Will Come" von Frank Churchill, "How Long Has This Been Going On" von George Gershwin, "Golden Earrings" von Victor Young und "The Old Country" von Nat Adderley.
Die alten Griechen sprachen von Kairos, wenn sie das Phänomen eines günstigen Augenblicks zu fassen suchten. Ein solcher Kairos muss auch im Spiel gewesen sein, als Arvo Pärts Album "Tabula rasa" in den 1980er Jahren entstand. Alles stimmte, alles fügte sich wie von magischer Hand. Im Hintergrund zog indes der Musikproduzent Manfred Eicher die Fäden. Er schuf die klanglichen und organisatorischen Voraussetzungen dafür, dass Pärts Album so, wie es später erschien, entstehen konnte.
Eicher gewann nicht nur den Komponisten Arvo Pärt für sein ambitioniertes Aufnahmeprojekt, sondern rief mit dem Pianisten Keith Jarrett, dem Geiger Gidon Kremer, den 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker und dem Staatsorchester Stuttgart unter Dennis Russell Davies auch hochprofilierte Ensembles und Solisten ins Studio, die sich Pärts neuartiger Klangpoesie gewachsen zeigten und sie mit aus der Taufe zu heben halfen.
Geburt der New Series
Eigens für diese Produktion gründete er 1984 dann, als Imprint seines 1969 ins Leben gerufenen Jazz-Labels ECM, die New Series. Dieses Label feiert nun in diesem Jahr, 2024, sein vierzigjähriges Bestehen. Aus diesem Anlass hat ECM New Series Pärts Album Tabula rasa" neu aufgelegt. Es erscheint in einer faksimilierten Gatefold-Edition, mit dem ursprünglichen Begleitessay von Wolfgang Sandner im beiliegenden Heft. In der aufklappbaren Hülle befindet sich, wie seinerzeit, eine auf 180g Vinyl gepresste LP.
Indes wollen keine Gefühle der Nostalgie aufkommen, wenn man das Album jetzt wieder zur Hand nimmt. Pärts Klangkosmos, der in seiner spirituellen Größe weit über das hinausreicht, was sterile Begriffe wie "Neue Einfachheit" oder "Minimalismus" zu greifen bekommen, ist von unverminderter Frische.
Der winterlich-melancholische Ton von "Fratres", den Gidon Kremer und Keith Jarrett kongenial anstimmen, hat nichts von seiner poetischen Kraft und subtilen Gespanntheit eingebüßt. Immer noch fasziniert auch, wie anders dasselbe Werk in der Fassung für 12 Celli klingt. Bei den 12 Cellisten wirkt es nicht nur breitflächiger, sondern durch den gehaltenen Orgelton und die wenigen, jedoch strukturierenden Interventionen des Schlagzeugs auch meditativer, in sich gekehrter.
Pärts Vielgestaltigkeit
Der "Cantus in Memory of Benjamin Britten" gewinnt mit seinen wiederkehrenden Glockenschlägen und den hoch ansetzenden, jedoch zusehends tiefere Gefilde aufsuchenden und zu immer größerer Fülle anwachsenden Streicherklängen eine hypnotische Intensität. Dagegen verströmt das bereits 1977 in einer Live-Aufnahme des Westdeutschen Rundfunks in Bonn festgehaltene Tabula rasa", mit dem großen Komponisten Alfred Schnittke am präparierten Klavier, eher Töne einer erwartungsvollen Unruhe.
Insgesamt offenbart das Album, wie vielgestaltig und spannungsgeladen Pärts Musik ist und dass sie sich einfachen Zuschreibungen entzieht. Sandner erkannte dies in seinem luziden Essay, in dem Pärts Tintinnabuli-Stil mit vielen gültigen Formulierungen charakterisiert ist, schon früh: "Die Musik von Arvo Pärt neigt zu Extremen. Man spürt ihre Wurzeln und ihren Geist, aber der Klangkörper lässt sich nicht recht begreifen." Vielleicht ist die Lehre aus "Tabula rasa" deshalb, dass Pärts Musik erst noch verstanden werden muss.
Wer "Tabula Rasa" als CD präferiert und eine vertiefte intellektuelle Auseinandersetzung mit Pärts Musik sucht, dem empfiehlt sich die Special Book Edition des Albums. Sie enthält neben der Musik auf CD ein Buch mit exklusiven Fotos aus dem ECM-Archiv, mit den Partituren aller vier Kompositionen des Albums, mit Faksimiles von Pärts Autografen (Tabula rasa" und Cantus in Memory of Benjamin Britten") sowie einem literarisch anspruchsvollen Essay von Paul Griffiths. Alle Texte in Englisch und Deutsch.
Diese LP und weitere der Luminessence Serie und von ECM finden Sie im JazzEcho-Store.
Im April 2023 begann ECM damit, in seiner neuen Reihe "Luminessence" einige der frühesten Alben des Labels auf hochwertigem Vinyl wiederzuveröffentlichen. Bisher erschienen bereits Gary Burtons "The New Quartet", Kenny Wheelers "Gnu High", Naná Vasconcelos’ "Saudades" (feat. Egberto Gismonti), "Old And New Dreams" von dem gleichnamigen US-amerikanischen All-Star-Quartett und die drei LPs enthaltende Keith-Jarrett-Box "Solo-Concerts Bremen/Lausanne".
Jetzt wird die Reihe im Frühjahr 2024 mit weiteren wichtigen Alben fortgesetzt. Zwei davon präsentieren den Saxophonisten Jan Garbarek in sehr unterschiedlichen Kontexten. Auf dem ursprünglich 1975 erschienenen Album "Luminessence" (dem diese Reissue-Serie auch ihren Titel verdankt) ist Garbarek mit dem Südfunk-Sinfonieorchester unter der Leitung von Mladen Gutesha und Kompositionen von Keith Jarrett zu hören. "Afric Pepperbird" wiederum, Garbareks ECM-Debütalbum, entstand 1970 im Quartett mit Terje Rypdal, Arild Andersen und Jon Christensen. Darüber hinaus gibt es noch eine Neuauflage des 1977 erschienenen Debütalbums des britischen Trios Azimuth, das die spezielle Synergie zwischen der Vokalistin Norma Winstone, dem Pianisten John Taylor und Trompeter Kenny Wheeler dokumentierte. Im weiteren Verlauf des Jahres sollen darüber hinaus noch Alben von Zakir Hussain, Pat Metheny, Jan Garbarek, Bennie Maupin, Rainer Brüninghaus sowie Kenny Wheeler mit Lee Konitz, Dave Holland und Bill Frisell neu aufgelegt werden.
Jarretts Interpretation der "Württembergischen Sonaten" von C.P.E. Bach hatte schon bald nach ihrem Erscheinen ein breites Medienecho ausgelöst. Das Album landete nicht nur auf Platz 1 der Klassik-Trendcharts, sondern überzeugte auch große Teile des Fachpublikums, das fast einhellig den harmonischen Farbenreichtum der Darbietung, die natürliche Spielkultur des US-amerikanischen Pianisten und dessen schwebenden Stil hervorhob. Stellvertretend für viele sprach Christine Lemke-Matwey im Südwestrundfunk von der "grandiosen Selbstverständlichkeit, ja Natürlichkeit" in Jarretts Klavierspiel, das sich der Musikkritikerin wie "fließende musikalische Gedanken" mitteilte.
Die New Series hatte das Album am 30. Juni 2023 auf den Markt gebracht. Davor hatte die Aufnahme fast dreißig Jahre lang im Archiv geruht. Jarretts C.P.E. Bach-Session fand 1994 im heimischen Cavelight Studio des Pianisten in Oxford/New Jersey statt. Sie entstand in einer Zeit, als Jarrett mit J. S. Bach, Händel und Schostakowitsch vermehrt große Komponisten der europäischen Tradition ins Zentrum seines Schaffens rückte.
Hoher Rang in Jarretts Diskografie
Die "Württembergischen Sonaten" (1742/43) von Carl Philipp Emanuel Bach kannte Jarrett in Cembalo-Fassungen und er gewann den Eindruck, "dass es noch Raum für eine Klavierversion gab". Dass sich der Zyklus des zweitältesten Bach-Sohnes und größten Vorbilds Mozarts für das Klavier eignet, untermauert Jarrett mit seiner Aufnahme von 1994. Die ideenreichen Stücke des experimentierfreudigen Tonschöpfers, der die strengen Formen seines Vaters zwar nicht verwarf, aber doch deutlich auflockerte, entfalten am modernen Flügel eine ureigene, visionäre Intensität.
Das Münchener Label ECM New Series trägt der besonderen Bedeutung von Jarretts C.P.E. Bach-Archivalie jetzt dadurch Rechnung, dass es sie zusätzlich zur CD-Ausgabe in einer Vinyl-Edition veröffentlicht. Das hat Seltenheitswert. Veröffentlichungen der New Series erscheinen kaum auf LP. Das C.P.E. Bach-Doppelalbum von Keith Jarrett ist neben seiner 1987er-Aufnahme des ersten Teils von Bachs "Wohltemperiertem Klavier" (ECM 1362/63) und seiner Einspielung der Goldberg-Variationen von 1989 (ECM 1395) eines seiner wenigen Solo-Alben mit klassischem Repertoire, das bei ECM am 9. Februar auf Vinyl erscheint.
Diese LP-Box und weitere der Luminessence Serie und von ECM finden Sie im JazzEcho-Store.
Wie Keith Jarrett 1973 in seinem Begleittext zu "Solo Concerts: Bremen Lausanne" schrieb, dokumentiert dieses Dreifach-Album Momentaufnahmen "eines Künstlers, der auf spontane Weise etwas erschafft, das von der Atmosphäre, dem Publikum, dem Ort (sowohl dem Raum als auch der geografischen Lage) und dem Instrument bestimmt wird; all dies wird bewusst durch den Künstler kanalisiert, sodass die Bemühungen aller gleichermaßen belohnt werden, obwohl der Erfolg oder Misserfolg vollständig dem Künstler selbst gehört. Der Künstler ist für jede Sekunde verantwortlich." Die Box, die nun als Teil der gefeierten "Luminessence"-Vinyl-Reihe von ECM in einer Faksimile-Edition wiederveröffentlicht wird, enthält zwei über einstündige Mitschnitte der beiden Solokonzerte, die der Pianist im März und Juli 1973 in Lausanne respektive Bremen gegeben hatte. Die Aufnahmen bildeten den Auftakt zu Jarretts einzigartiger Solo-Odyssee, die sich über mehr als vier Jahrzehnte erstrecken und insgesamt achtzehn Live-Alben (viele davon Mehrfach-Alben) von seinen Solokonzerten hervorbringen sollte. Bis heute haben diese Aufnahmen, bei denen Jarrett mit seinen fantasievollen und epischen Solo-Improvisationen ad hoc Musikgeschichte schrieb, nichts von ihrer ursprünglichen Faszinationskraft eingebüßt.
Als "Solo Concerts: Bremen Lausanne" vor fünfzig Jahren zum ersten Mal erschien, war die Begeisterung von Musikfans und Kritikern in aller Welt schier überwältigend. Das Album wurde mit Auszeichnungen überschüttet und im Time Magazine, in der New York Times, in Down Beat und Stereo Review in den USA, im Jazz Forum in Polen und im Swing Journal in Japan als Album des Jahres gefeiert. In Deutschland wurde es mit dem Großen Deutschen Schallplattenpreis ausgezeichnet. Wie hoch es auch heute noch bei Musikhörer(inne)n im Kurs steht, zeigt sich erst kürzlich bei einer Umfrage des britischen Mojo-Magazins zu Jarretts Gesamtwerk, bei der die Leser/innen "Solo Concerts: Bremen Lausanne" auf Platz 1 wählten. "Dies ist das Nonplusultra des Jarrett-Solo-Livekonzerts in all seiner improvisatorischen Pracht", merkte die Redaktion an. Und in einer ausführlichen Rezension, die im August 2023 bei Pitchfork erschien, bezeichnete Mark Richardson das Album als ein "karrierebestimmendes Jazz-Meisterwerk" und schrieb, dass die "strukturelle Kohärenz dieser langen Improvisationen über zwei einstündige Sets hinweg erstaunlich ist".
ECM New Series hat ein neues Album des US-amerikanischen Pianisten Keith Jarrett veröffentlicht. Auf dem Programm stehen die "Württembergischen Sonaten" von C.P.E. Bach, ein in die Zukunft vorausweisender Klavierzyklus.
Keith Jarrett hat sich klassischem Repertoire stets mit besonderer Zurückhaltung genähert. Der exaltierte Jazz-Improvisator, bekannt für seine virtuose Art, das Klavier als Ausdrucksmittel spontaner Empfindungen in Gebrauch zu nehmen, ist Komponisten wie Bach, Händel oder Mozart immer eher aufmerksam nachspürend, verstehend gefolgt. Seine Bach-Aufnahmen etwa zeichnen sich durch eine poetisch-fließende Manier aus, still, unaufgeregt, mit wenigen lässigen Gesten, aber spürbarer Lust an harmonischer Delikatesse.
Aber auch bei anderen Komponisten verwandte der Pianist viel Sorgfalt darauf, ihrer jeweiligen Klangsprache gerecht zu werden. Diese Qualität zeichnet auch die kostbare Archivalie aus, die ECM New Series soeben gehoben und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat: Jarretts farbenreiche, zwischen frenetischer Entfesselung und sanftmütiger Poesie changierende Aufnahme der "Württembergischen Sonaten" (1742/43) von Carl Philipp Emanuel Bach.
Jahre mit Bach
Die Aufnahme stammt von 1994. Sie fällt in eine Zeit, in der Jarrett mit Bach, Händel und Schostakowitsch große Komponisten Europas ins Zentrum seines Schaffens rückt. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei J.S. Bach. 1988 präsentiert er bei ECM seine vielbeachtete Aufnahme des ersten Teils von Bachs "Wohltemperiertem Clavier". 1989 erscheint seine Interpretation der Goldberg-Variationen. 1991 folgt der zweite Teil des "Wohltemperierten Claviers" und eine mit Kim Kashkashian und ihm selbst am Cembalo verwirklichte Einspielung der drei Gambensonaten, bevor er 1993 mit den Französischen Suiten einen vorläufigen Schlusspunkt hinter seine intensive Auseinandersetzung mit dem Thomaskantor setzt.
Ein Jahr später sitzt er im heimischen Cavelight Studio in Oxford/New Jersey am Flügel und widmet sich C.P.E. Bach, dem zweitältesten Bach-Sohn und größten Vorbild Mozarts. Die Musik des experimentierfreudigen Tonschöpfers, der die strengen Formen seines Vaters zwar nicht verwirft, aber doch deutlich auflockert, ist, wie man jetzt, knapp dreißig Jahre nach Jarretts Aufnahme erfahren darf, ganz nach dem Geschmack des großen Jazz- und Klassikpianisten.
Schule der Empfindsamkeit
Die plötzlichen Tempowechsel, die harmonische Kühnheit und der deklamatorische Stil von C.P.E. Bach kommen Jarretts agilem Temperament deutlich entgegen. Wie der Hamburger bzw. Berliner Bach, der am Hof Friedrichs des Großen Karriere machte, weiß Jarrett, was es heißt, seine Emotionen in die Musik zu legen und den oft unkontrollierbaren, plötzlichen Wendungen des Seelenlebens Ausdruck zu verleihen. Am schillerndsten zeigt sich dies im hochgespannten ersten Satz der sechsten Sonate (H. 36), den Jarrett ebenso entfesselt wie klar strukturiert vorträgt.
In den langsamen Mittelsätzen der Sonaten bewährt sich Jarretts legendäre Fähigkeit, sich melancholischen oder verträumten Stimmungen hinzugeben. Insgesamt besticht seine Interpretation der Württembergischen Sonaten durch Jarretts souveräne Integration leidenschaftlicher Impulsivität, empfindsamen Ausdrucks und harmonischer Transparenz. Damit darf diese Aufnahme als ein weiterer wesentlicher Baustein in Jarretts vielgestaltiger Diskografie gelten.
Mit seinem sogenannten "Standards"-Trio (mit Gary Peacock und Jack DeJohnette) hatte der Pianist Keith Jarrett 1983 ein neues aufregendes Kapitel in seiner Karriere aufgeschlagen. Binnen weniger Jahre spielte er mit dieser Formation (die schließlich erstaunliche 30 Jahre Bestand haben sollte) eine Reihe von Alben ein, die gänzlich neue Maßstäbe für das Interpretieren von Jazzstandards, aber auch für das Improvisieren im klassischen Klavier-Trio-Format setzen. Im Sommer 1986 befand sich der Pianist mit seinen beiden Spielpartnern gerade auf einer ausgedehnten Festival-Tournee durch Europa, als er am 14. Juli einen freien Tag zwischen zwei Konzerten nutzte, um im Tonstudio Bauer in Ludwigsburg ein besonders ausgefallenes Projekt anzugehen. Für das Doppelalbum "Book Of Ways" spielte Jarrett 19 vollkommen improvisierte Stücke auf drei Clavichorden ein. Die klangliche und rhythmische Vielfalt, die er - abwechselnd auf einem oder gleichzeitig zwei Instrumenten spielend - dabei bot, war schlichtweg beeindruckend. Neben unverkennbaren Anklängen an Lautenmusik und die japanische Koto kam die ganze Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten des Clavichords zur Geltung. Für die jetzt erscheinende Neuauflage wurden die Improvisationen ohne Änderung der Reihenfolge angepasst. Als das Doppelalbum 1987 erstmals erschien, schwärmte das Magazin Spin: "Jarrett ist es gelungen, mit all seiner gewohnten Innerlichkeit und dennoch mit paradoxerweise größerer Objektivität und Kraft zu spielen; die Musik, so einfühlsam und schön sie auch gespielt sein mag, geht einen frontal an, besteht darauf, dass man ihr zuhört, verlangt eine Entsprechung der eigenen physischen Existenz, schaut einem direkt in die Augen..."
"Meines Wissens ist diese Aufnahme in mehrfacher Hinsicht einzigartig", schrieb der Pianist 2002 in den Liner Notes für die von ihm zusammengestellte ECM-Compilation "Keith Jarrett - Selected Recordings", die er überraschend mit drei Stücken von "Book Of Ways" eröffnet hatte. "Wir hatten drei Clavichorde im Studio, von denen zwei in einem solchen Winkel zueinander standen, dass ich sie gleichzeitig spielen konnte, und das dritte stand etwas abseits. Außerdem haben wir die Instrumente mit sehr nah platzierten Mikrofonen abgenommen, damit die gesamte Bandbreite der Dynamik genutzt werden konnte (Clavichorde sind sehr leise und können nur bis zu einer Entfernung von ein paar Metern gehört werden). Die beiden CDs wurden an einem freien Tag zwischen den Konzerten mit meinem Trio aufgenommen, und es wurde kein Material im Voraus organisiert. Alles war spontan. Die Aufnahme wurde in vier Stunden unter Dach und Fach gebracht."
In einem Interview mit dem Magazin Piano & Keyboard verriet Keith Jarrett 1997: "Ich denke, 'Book Of Ways' ist eine der Aufnahmen, von denen ich mir wünsche, dass mehr Leute sie kennen. Ich glaube, sie enthält mehr von dem, was ich höre, als viele Sachen, die ich auf dem Klavier mache, denn das Klavier ist das Klavier." Mit dieser wunderbaren Neuauflage kann man dieses einzigartige Projekt nun neu entdecken.
Fünf Konzerte gab Keith Jarrett, als er im Juli 2016 seine (wie sich erst im Nachhinein herausstellte) finale Solo-Tournee durch Europa unternahm. Den Auftakt machte der Pianist am 3. Juli mit einem Konzert im Nationalen Béla-Bartók-Konzertsaal in Budapest, dem im Laufe der nächsten zwei Wochen noch Auftritte in Bordeaux (am 6. Juli im Auditorium der Opéra National de Bordeaux), Wien (am 9. Juli im Goldenen Saal des Musikvereins), Rom (am 12. Juli im Auditorium Parco Della Musica) und schließlich München (am 16. Juli in der Philharmonie am Gasteig) folgen sollten. Das "Bordeaux Concert", das Ende September auf CD erschien und nun auch als Doppel-Vinyl vorliegt, ist nach "Munich 2016" und "Budapest Concert" bereits das dritte Album von dieser durch und durch denkwürdigen Tournee.
In der weltweiten Presse wird "Bordeaux Concert" als eine von Jarretts besten Solo-Aufnahmen gefeiert und oft mit seinen bahnbrechenden und nach wie vor immens populären Solo-Live-Alben der 1970er Jahre verglichen: dem "Köln Concert" und "Solo Concerts: Bremen/Lausanne". "Der Meister der Solo-Klavierimprovisation bewies bei diesem Auftritt im Jahr 2016, dass seine spontane Alchemie so faszinierend wie immer war", urteilt etwa John Fordham im Guardian. Auf All About Jazz wiederum meint Mike Jurkovic: "Das auf allen Ebenen kommunikative ‘Bordeaux Concert’ versetzt den Hörer in die Mitte der ersten Reihe, wo er sich ganz auf Jarrett und seine momentane Muse konzentrieren kann... Die Lichter gehen aus und Jarrett, der an diesem Abend besonders von den stillen Imaginationen besessen ist, mit denen er sein Publikum seit jeher in Bann schlägt und verzückt, erschafft eine allumfassende, atemberaubend flüssige, eindringlich lyrische dreizehnteilige Suite." Und im Wall Street Journal schreibt Stuart Isacoff: "Das ‘Bordeaux Concert’ ist eine Hymne an die Spontaneität. Als Jarrett die Bühne des Auditorium der Opéra National de Bordeaux betrat, hatte er keine Vorstellung von dem, was er spielen würde; den Eingebungen des Augenblicks folgend, gestaltete er die Musik in langen, ausgefeilten Improvisationen aus, die je nach Lust und Laune fortgesetzt oder beendet wurden. Wie genau er das geschafft hat, bleibt ein Rätsel."
Als Keith Jarrett 2016 eine ausgedehnte Solo-Tournee durch Europa unternahm, konnte noch niemand ahnen, dass es seine letzte sein würde. Jedes einzelne der Soloklavierkonzerte dieser Tournee besaß einen ganz eigenen Charakter. Und bei seinem Auftritt im Auditorium der Opéra National de Bordeaux stand - obwohl die Musik viele wechselnde Stimmungen durchlaufen sollte - der lyrische Impuls im Vordergrund.
Jarrett bot dem Publikum an diesem Abend eine improvisierte dreizehnteilige Suite, in deren Verlauf es viele leise Entdeckungen zu machen gab. Die Musik ist in ihrer Gesamtheit von einer bewegenden Frische. Und die Aufnahme vermittelt einen Eindruck von der intimen Kommunikation, die zwischen dem Pianisten auf der Bühne und den 1.400 aufmerksamen Zuhörern im Saal stattfand.
Auffallend ist, dass Jarrett diesmal - entgegen seiner Gewohnheit - nicht auf Standards zurückgriff, um seine Aufführung abzurunden. Der Bogen der spontan komponierten und oft intensiv melodischen Musik ist in sich selbst absolut schlüssig und vollständig. In den Solokonzerten, die Jarrett im Herbst seiner Karriere gab, gelang es ihm nicht nur, die Musik, die ihm ad hoc in den Sinn kam, von einem Moment auf den anderen zu kanalisieren, sondern auch einen Sinn für eine größere Struktur anzudeuten, indem er ihre Episoden und Stimmungen fein ausbalancierte.
In ihren Konzertkritiken verglich die französische Presse den organischen Fluss der Musik mit jenem, der auf Jarretts frühen Meisterwerken "Köln Concert" und "Bremen/Lausanne" vorzufinden war. Und tatsächlich sind auch große Teile des "Bordeaux Concert" einfach nur betörend schön. Jarrett scheint die zarten Melodien hier aus der Luft zu pflücken, während das Publikum in nahezu andachtsvoller Stille lauscht. "Er spielt, was er noch nie gespielt hat, was niemand jemals zu spielen gewagt hat, was niemand jemals wieder spielen wird", schrieb der Kritiker Francis Marmande hinterher in Le Monde.
Das Publikum im Bordeaux war schon seit langem mit Jarretts Musik vertraut gewesen. Die Hauptstadt der Region Nouvelle-Aquitaine war eine der ersten europäischen Städte, in denen der Pianist seine Musik vorstellte. Bereits 1970trat er dort mit einem Trio auf, das er damals mit zwei Musikern der progressiven Pariser Jazzszene gebildet hatte: dem Bassisten August "Gus" Nemeth und dem Schlagzeuger Aldo Romano. In den frühen 1990ern kehrte Jarrett in die Stadt mit seinem "Standards"-Trio mit Gary Peacock und Jack DeJohnette zurück. Das Konzert, das er am 6. Juli 2016 im Auditorium der Opéra National de Bordeaux gab, war allerdings sein einziger Soloauftritt in der Stadt. Ermöglicht wurde er durch das "Jazz and Wine Bordeaux Festival" und dessen künstlerischen Leiter Jean-Jacques Quesada.
"Bordeaux Concert" ist bereits der dritte Konzertmitschnitt, der von Keith Jarretts letzter Solo-Europa-Tournee erschienen ist (eine Vinyl-Edition des Albums wird im Oktober erhältlich sein).
Im November 2019 veröffentlichte ECM Records zuerst das "Munich Concert" und im Oktober 2020 das "Budapest Concert". Beide Alben wurden in der Presse hymnisch gefeiert.
In der Abendzeitung schrieb Ssirus W. Pakzad über "Munich 2016": "An diesem 16. Juli 2016 stürzte Keith Jarrett sich und seine Zuhörer in ein Wechselbad der Gefühle. Auf sanftes Pathos sollte ein übermütiger Blues folgen. Dann wieder: ein ganz in sich gekehrter Keith Jarrett. Dieses Konzert, das mit einer zum Heulen schönen Fassung des Klassikers ‘Over The Rainbow’ endete, wurde zum Glück für die Nachwelt festgehalten. Es zeigt den Klavier- und Improvisations-Virtuosen auf dem Gipfel seines Schaffens."
Zum "Budapest Concert" meinte in der Frankfurter Allgemeine Zeitung wiederum Wolfgang Sandner: "Vergleicht man das ‘Budapest Concert’ vom 3.
Juli 2016 mit der Aufnahme aus München vom 16. Juli des Jahres, erlebt man beide Male Sternstunden in der an Sternstunden reichen Karriere Keith Jarretts; einen erstaunlichen Kosmos pianistischer Klangmöglichkeiten, brillante Musik, die sich in alle möglichen und unmöglichen Richtungen des Quintenzirkels ausbreitet, atonal darüber hinausschießt, keine metrisch-rhythmischen Beschränkungen kennt und doch stets zu schlüssigen Formen zurückfindet. Und immer wieder überwältigende Beispiele einer sinnlich schönen Klangkunst ohne auch nur die Spur einer ästhetisch fragwürdigen Trivialität."
"Er spielt, was er noch nie gespielt hat, was niemand jemals zu spielen gewagt hat, was niemand jemals wieder spielen wird", schrieb der Kritiker Francis Marmande am 7. Juli 2016 in Le Monde über das Solokonzert, das Keith Jarrett am Vorabend im Auditorium der Opéra National von Bordeaux gegeben hatte. Der Pianist befand sich damals auf einer ausgedehnten Europa-Tournee, die - wie sich später herausstellte - seine letzte gewesen sein sollte. Zwei Alben mit kompletten Konzertaufnahmen dieser Tournee sind in den vergangenen Jahren bereits erschienen: im November 2019 sein "Munich Concert" und im Oktober 2020 das "Budapest Concert". Beide wurden in der Presse hymnisch gefeiert. Mit dem "Bordeaux Concert" wird am 30. September nun ein drittes Konzert-Highlight dieser Tournee veröffentlicht.
Und wie seine beiden Vorgänger hat es musikalisch einen ganz eigenen Charakter. In Bordeaux folgte der Pianist vor allem seinem lyrischen Impuls. Im Laufe einer dreizehnteiligen improvisierten Suite werden viele stille Entdeckungen gemacht, und die Musik als Ganzes hat eine berührende Frische und vermittelt ein Gefühl von intimer Kommunikation. Die französische Presse meinte im Fluss der Dinge Anklänge an einige der legendärsten Solokonzerte des Pianisten herausgehört zu haben: das "Köln Concert" von 1975 und "Bremen/Lausanne" von 1973. Tatsächlich sind auch weite Teile des "Bordeaux Concert" von geradezu betörender Schönheit. Jarrett scheint die zarten Melodien hier aus der Luft zu pflücken, während das Publikum in nahezu andachtsvoller Stille lauscht.
"Bordeaux Concert" wird am 30. September von ECM Records veröffentlicht, kann aber schon jetzt vorbestellt werden. Die Vinyl-Edition des Albums wird dann voraussichtlich im Oktober erhältlich sein.
"Facing You", von Manfred Eicher produziert und von Jan Erik Kongshaug aufgenommen, war der verheißungsvolle Auftakt zu einer gefeierten Reihe von bahnbrechenden Aufnahmen, die ein neues Paradigma für Soloklavierstücke etablierten. Dokumentiert wurde dies über die Jahrzehnte hinweg auf Alben wie "Solo Concerts: Bremen/Lausanne", "The Köln Concert", "Sun Bear Concerts", "The Melody At Night, With You" und zuletzt "Budapest Concert".
"I was on tour with Miles Davis and had met Manfred around this time," erinnerte sich Jarrett später. "He had written me about a proposed collaboration with Chick Corea but I was set on recording solo. I thought it would be a novel idea to not prepare and was totally comfortable with my decision despite a tight afternoon schedule while strictly playing electric piano on the tour."
Gut im Gedächtnis haften geblieben ist Jarrett auch, wie er ursprünglich auf die Idee kam, sein erstes Soloalbum aufzunehmen: "Prior to the recording, Manfred and I went to a classical concert at the university in Heidelberg in which I performed solo. I improvised between a couple of standards and was encouraged by the positive reaction."
"Facing You" sorgte damals sofort für Furore. Im Rolling Stone schrieb der bekannte Kritiker Robert Palmer am 21. Dezember 1972: "Wenn er alleine spielt, treibt Jarrett seine Kreativität an ihre Grenzen. Es ist fast schon beängstigend, jemanden zu hören, der sich scheinbar so vollkommen auf die temperamentvollen, fließenden, fast überschwänglichen Anweisungen seiner Muse verlässt. Doch seine Muse scheint ihn nie zu enttäuschen. Seine Inspirationen scheinen so reich und vielfältig zu sein wie seine Kompositionen. [...] Es ist vielleicht das beste Album mit Jazz-Piano-Soli, seit Art Tatum von uns gegangen ist, und es ist zweifellos das kreativste und überzeugendste Soloalbum der letzten Jahre."
Auch unter Jarretts Klavierkollegen genießt "Facing You" bis heute einen besonderen Status. In der JazzTimes schrieb Kenny Werner 2011 über das Album: "Obwohl seine berühmteste Soloaufnahme, 'The Köln Concert', und alle nachfolgenden Soloaufnahmen dem Publikum viel besser bekannt sind, steht seine erste Soloaufnahme, 'Facing You', bei mir unangefochten an erster Stelle. Der innovative Ansatz beim Komponieren und der musikalischen Entwicklung war zu jener Zeit [in positiver Weise] schockierend. Jarrett strahlte in seinem Spiel ebenso viel Wärme, Herz und Schönheit aus wie Virtuosität und Intellekt. Jarretts Spiel steht für ein neues und innovatives Niveau harmonischer, rhythmischer und melodischer Entwicklung, gebündelt mit der größten Kreativität, die man sich vorstellen kann. Es stellte damals einen neuen Spielstandard dar, und daran hat sich auch bis heute noch nichts geändert."
Kurz bevor im Oktober vergangenen Jahres die Doppel-CD mit Keith Jarretts "Budapest Concert" bei ECM Records erschien, sorgte ein Artikel der New York Times unter den Fans des Pianisten für helle Aufregung. In einem Gespräch mit Nate Chinen verkündete Jarrett dort seinen wohl endgültigen, krankheitsbedingten Abschied von der Bühne. Die traurige Nachricht dürfte die Nachfrage nach dem Album, das im November gleich auf Platz 1 in die deutschen Jazzcharts einstieg, zusätzlich beflügelt haben. Doch wer den 2019 erschienenen Vorgänger "Munich 2016" erstanden hatte, brauchte sicherlich keine "Extramotivation". Das Doppelalbum wurde nämlich von der internationalen Presse unisono als eines von Jarretts besten Soloalben überhaupt gefeiert. Und bei derselben Tournee, bei der "Munich 2016" aufgezeichnet worden war, hatte der bestens aufgelegte Jarrett zwei Wochen zuvor in Budapest ein nicht minder brillantes Konzert gegeben, das nun auch auf Doppel-Vinyl erhältlich ist.
"Was da in zwölf Stücken und zwei Zugaben, in 87 Minuten Musik, passiert, fasst den reifen Jarrett zusammen", schrieb Thomas Klingenmaier am 4. November 2020 in der Stuttgarter Zeitung. "Was er zunächst improvisiert, verzichtet auf Swing als Grundelement des Jazz, auf knappe Liedformen sowieso. Eingegrenzt von Béla Bartóks klassischer Moderne, Cecil Taylors Free-Jazz-Clustern und der harmonischen Zartheit von Bill Evans, liegt das unbekannte Land, das Jarrett als Kartograf einer seltsamen Melancholie voller Brüche, aber ohne Selbstironie Zug um Zug freilegt. Je näher er sich nach und nach an die Jazztradition heran spielt, desto unbesorgter und zufriedener wirkt er. Die Zugaben sind Standards, das letzte Improvisationsstück davor ist ein übermütiger Blues. Was man da erlebt, ist Freispielen im Wortsinn, Errettung durch Musik, der Versuch, Kopf und Bauch für einen Abend in Einklang zu bringen. Jarrett, der lange am Erschöpfungssyndrom litt, lässt spüren, dass Schöpfung und Kollaps für ihn eine Haaresbreite auseinander liegen. Und es geht einem erst so richtig auf, dass Jarrett schon sehr lange genau so gespielt hat, als sei der jeweilige Livemitschnitt der Letzte, als müsse er noch einmal alles ausdrücken, was ihm wichtig ist."
Das Doppelalbum "Budapest Concert" ist der zweite komplette Konzertmitschnitt von der letzten ausgedehnten Europa-Tournee, die Keith Jarrett 2016 unternahm. Die Aufnahme in Budapest entstand zwei Wochen vor dem weithin gefeierten Auftritt, der im vergangenen Oktober auf dem Doppelalbum "Munich 2016" veröffentlicht wurde. Das neue Werk dokumentiert eine Solo-Performance des Pianisten in der Béla Bartók National Concert Hall in Budapest. Jarrett, dessen familiäre Wurzeln bis nach Ungarn zurückreichen, betrachtete das Konzert als eine Art "Heimkehr". Dem Publikum gestand er an diesem Abend außerdem seine lebenslange Zuneigung zu Béla Bartók. Diese Umstände mögen auch erklären, weshalb der Pianist an diesem Abend von besonderer Kreativität beflügelt zu sein schien.
Bei seinen frühen Solokonzerten hatte Jarrett im Laufe eines Abends stets einen großen musikalischen Bogen gespannt und seinen Inspirationen freien Lauf gelassen. Dies änderte sich, als er sich nach einer krankheitsbedingten sechsjährigen Pause 2002 in Japan wieder als Solokünstler zurückmeldete. Aufnahmen von den damaligen Auftritten in Osaka und Tokio erschienen 2005 auf dem Doppelalbum "Radiance". Seitdem waren Jarretts Konzerte von einem eher suitenartigem Charakter geprägt.und setzen sich aus kürzeren, pointierteren Stücken zusammen. Mal präsentiert er dabei subtil gesponnene Tongebilde, dann wieder polyrhythmische Studien oder Bluesiges und als Zugabe stets ein paar Standards.
In einer Rezension von "Munich 2016" hatte Mike Hobart in der Londoner Financial Times, geschrieben, "dass in den frühen Recitals klassische Träumereien, populistische Referenzen und Jazzspontaneität zu ausgedehnten Strömen von Inventionen zusammengeflossen waren, während diese Stränge bei jüngeren Recitals getrennt wurden." Wenn der Prozess der Improvisation einst der Gegenstand der Konzerte gewesen war, so könnte man jetzt sagen, dass es bei Jarretts Solokonzerten im 21. Jahrhundert weniger um das Suchen als um das Finden ging. Die Musik auf "Budapest Concert" hat auf jeden Fall nichts Zögerliches, sondern ist von Anfang bis Ende ein Zeugnis für das unerschütterliche Selbstvertrauen des Pianisten.
"Die Anziehungskraft, die er auf das Publikum ausübt, rührt wahrscheinlich von seiner polystilistischen Grundhaltung her", schrieb Gábor Bóta auf der ungarischen Nachrichtenseite Népsava. "Jarrett verleibt sich alle Genres ein, von leicht bis ernst, und macht sie sich zueigen. Da die gesamte Darbietung improvisiert ist, sind wir Zeugen, wie die Musik unmittelbar vor unseren Augen und Ohren entsteht... Man spürt förmlich, wie er die Luft des Saals einatmet, das Gefühl des Augenblicks einfängt, seine Finger lockert, die Augen zusammenkneift, und da haben wir es dann: die richtigen Töne, die richtigen Melodien, eine völlig einzigartige Darbietung."
Dieselbe kreative Energie, die er in seinen Improvisationen offenbart, treibt Jarrett auch an, wenn er bekannte Standards als Zugaben spielt: diesmal sind es der durch Frank Sinatra bekannt gewordene Klassiker "It’s A Lonesome Old Town" und das sehr rhapsodische "Answer Me, My Love".
"Budapest Concert" verdeutlicht einmal mehr die schier grenzenlose Spielfreude und stilistische Bandbreite des Pianisten und seine einzigartige Fähigkeit, aus dem Moment zu schöpfen. Der ansonsten ungemein selbstkritische Künstler bezeichnete das neue Album vor kurzem sogar als seinen gegenwärtigen "Goldstandard". Und das sollte nun wirklich jeden Musikfan aufhorchen lassen.
Seit Keith Jarrett im März 2018 aus "gesundheitlichen Gründen" kurzfristig einen Auftritt in der Carnegie Hall absagen musste, herrschte in der Szene Rätselraten. Und je länger eine Neuansetzung dieses und anderer geplanter Konzerte auf sich warten, desto mehr Sorgen machten sich Musikerkollegen, Fans und Kritiker um den schweigsamen Star. Viele erinnerten sich sofort an eine andere Krankheitsepisode des Pianisten. 1996 hatten Ärzte diagnostiziert, dass Jarrett am sogenannten Chronische Erschöpfungssyndrom (CFS - Chronic fatigue syndrome) litt. Die Krankheit führt zu lähmender geistiger und körperlicher Erschöpfung. Gerade die energiezehrenden Soloauftritte waren für Jarrett in der Folge nicht mehr zu bewältigen. Zwei Jahre lang hielt ihn die Krankheit ganz von der Bühne fern. Die improvisierten Solokonzerte, für die er so berühmt war, konnte er sogar erst wieder ab 2002 absolvieren.
Diesmal ist zu befürchten, dass mit einer Rückkehr leider nicht zu rechnen ist. Denn wie man am 21. Oktober durch einen ausführlichen Artikel in der New York Times erfahren musste, hatte Jarrett 2018 binnen weniger Monate zwei Schlaganfälle erlitten, von denen er sich bis heute nicht erholt hat. In Telefongesprächen mit dem NYT-Kritiker Nate Chinen verriet der Pianist: "Meine linke Seite ist immer noch teilweise gelähmt. Ich kann versuchen, mit Hilfe eines Stocks zu gehen, aber ich brauchte über ein Jahr, um das zu lernen. Ich kann mich wirklich nur sehr mühsam in meinem Haus bewegen."
Durch die Schlaganfälle wurde aber nicht nur seine Motorik erheblich beeinträchtigt, sondern auch sein Erinnerungsvermögen. Als Jarrett, der am 8. Mai seinen 75. Geburtstag beging, kürzlich in seinem Heimstudio ein paar bekannte Bebop-Nummern spielen wollte, stellte er zu seinem Erschrecken fest, dass er sich nicht mehr an sie erinnern konnte. "Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussehen soll", gestand Jarrett gegenüber Nate Chinen. "Ich fühle mich im Moment nicht wie ein Pianist. Das ist alles, was ich dazu sagen kann."
Für die Fans dieses Ausnahmekünstlers mag es ein schwacher Trost sein, dass am 30. Oktober ein neues Doppelalbum erscheint, auf dem noch ein fantastisches Solokonzerte dokumentiert ist: dass "Budapest Concert" wurde am 3. Juli 2016 im Rahmen von Keith Jarretts letzter großen Europa-Tournee in der Béla Bartók National Concert Hall aufgezeichnet. Und natürlich besteht auch noch Hoffnung, dass der umjubelte Auftritt, den der Pianist im Februar 2017 in der Carnegie Hall gegeben hatte, bald das Licht der Welt erblickt.
Der 24. Januar 1975 ist ein Datum, das sich in die Erinnerung unzähliger Musikfans unauslöschlich eingebrannt hat. Denn an diesem ¨historischen Tag spielte der Pianist Keith Jarrett in der Kölner Oper sein Album "The Köln Concert" ein, an dem seither sämtliche improvisierte Klaviersolokonzerte gemessen wurden. Auch Jarretts eigene, von denen in den mittlerweile verstrichenen 45 Jahren etliche bei ECM Records dokumentiert wurden. Jarrett selbst entwickelte zu seinem Bestseller im Laufe der Jahre eine etwas ambivalente Beziehung und bezeichnete es vor einiger Zeit in einem Interview gar augenzwinkernd als einen "Fluch". Wenn der Pianist nun also, wie er das kürzlich tat, davon spricht, dass er sein kommendes Album "Budapest Concert" als seinen gegenwärtigen "Goldstandard" betrachtet, dann sollte das jeden Musikfan aufhorchen lassen.
Zwei Ausschnitte aus dem "Budapest Concert", das am 3. Juli 2016 in der Béla Bartók National Concert Hall aufgezeichnet wurde, konnte man in den zurückliegenden Monaten bereits kennenlernen. Zuerst erschien am 8. Mai, pünktlich zu Jarretts 75. Geburtstag, der als Zugabe gespielte wunderbar Klassiker "Answer Me, My Love" als digitale Single, dann am 18. September auf allen Streaming-Plattformen ein Part aus einer zwölfteiligen rhapsodischen Suite. Bevor das Album am 30. Oktober erscheint, gibt es mit "Part VIII" der Suite nun noch einen dritten Vorgeschmack auf Streaming-Plattformen.
Die Begeisterung unter Musikfans und Kritikern war schier überwältigend, als letztes Jahr das Doppelalbum "Munich 2016" von Keith Jarrett erschien. In der Abendzeitung brachte Ssirus W. Pakzad damals den allgemeinen Tenor auf den Punkt, als er meinte, dass "Munich 2016" "den Klavier- und Improvisations-Virtuosen auf dem Gipfel seines Schaffens" zeigt. Bei derselben Tournee war knapp zwei Wochen zuvor auch ein Auftritt in der Béla Bartók National Concert Hall in Budapest mitgeschnitten worden. Und der wird nun am 30. Oktober unter dem Titel "Budapest Concert" ebenfalls als Doppelalbum auf Vinyl und CD veröffentlicht.
Jarrett, dessen Großmutter ungarische Wurzeln hatte, betrachtete das Konzert in Budapest als eine Art "Heimkehr" - ein Umstand, der seine Kreativität an diesem Abend besonders beflügelt haben mag. Während er bei seinen frühen Solokonzerten im Laufe eines Abends stets einen großen musikalischen Bogen spannte und seiner Inspirationen freien Lauf ließ, sind die Konzerte in jüngerer Zeit von einem eher suitenartigem Charakter geprägt und setzen sich aus kürzeren, konzentrierteren Stücken zusammen. Mal präsentiert er subtil gesponnene Tongebilde, dann wieder polyrhythmische Studien oder Bluesiges und als Zugabe stets ein paar Standards - das Budapester Konzert verdeutlicht einmal mehr die schier grenzenlose Spielfreude und stilistische Bandbreite des Pianisten und seine einzigartige Fähigkeit, aus dem Moment zu schöpfen.
Als Vorbote des Albums war pünktlich zu Jarretts 75. Geburtstag am 8. Mai bereits eine digitale Single mit dem Klassiker "Answer Me, My Love" bei ECM erschienen. Es war einen der beiden Zugaben, die Jarrettt an diesem Abend in Budapest gespielt hatte. Jetzt kann man auf allen Streaming-Plattformen den elegischen "Part VII" des wie eine Suite konzipierten Konzerts kennenlernen. Am 9. Oktober wird dort mit "Part VIII" dann noch ein weiterer Track zu hören sein.
Die Aufzeichnung stammt von einem Solokonzert, das Jarrett am 3. Juli 2016 in der Béla Bartók National Concert Hall in Budapest gegeben hat
"Ich glaube, dass man nur dann ein wirklich wertvoller Künstler sein kann, wenn man die Unmöglichkeit seiner Aufgabe erkennt - und trotzdem weitermacht." Die Worte stammen von dem Pianisten Keith Jarrett, der am 8. Mai 2020 seinen 75. Geburtstag begeht. Das Œuvre, das Jarrett in den annähernd fünfzig Jahren eingespielt hat, die er nun schon aufs Engste mit Manfred Eicher und ECM Records verbandelt ist, könnte kaum beeindruckender sein.
Es umfasst einen schier unerschöpflichen Strom völlig improvisierter Solokonzerte, mit denen Jarrett in der Jazzwelt (und keineswegs nur dort) in mehrfacher Hinsicht neue Maßstäbe setzte - von "Solo Concerts Bremen/Lausanne" über den Bestseller "The Köln Concert" und die monumentalen "Sun Bear Concerts", die eine Box mit sechs CDs füllten, bis hin zu dem letztes Jahr erschienenen Doppelalbum "Munich 2016", das hymnische Kritiken erntete.
So zahlreich wie Jarretts improvisierte Soloaufnahmen auch sind, offenbaren sie doch nur einen Aspekt dieses facettenreichen Künstlers.
Denn in seiner ECM-Diskographie gibt es auch exquisite Duo-Alben mit dem Bassisten Charlie Haden ("Jasmine" und "Last Dance") oder dem Schlagzeuger Jack DeJohnette ("Ruta And Daitya"). Das traditionelle Piano-Trio-Format lotete Jarrett besonders intensiv und erfolgreich im sogenannten "Standards"-Trio mit Gary Peacock und Jack DeJohnette aus, aber auch in Kollaborationen mit Peacock und Paul Motian ("Live At The Deer Head Inn") oder Haden und Motian ("Hamburg ‘72"). Eine zeitlang unterhielt er außerdem parallel zwei Quartette: ein US-amerikanisches mit Dewey Redman, Haden und Motian ("The Survivor’s Suite" und "Eyes Of The Heart") sowie ein europäisches mit Jan Garbarek, Palle Danielsson und Jon Christensen (u.a. "Belonging" und "My Song"). Auf Alben wie "Invocations", "Spirits" und "No End" unternahm er zudem abenteuerliche Seitensprünge als Multiinstrumentalist. Mit Interpretationen der Meisterwerke von u.a. Bach, Mozart, Händel, Bartók, Barber, Shostakovitch und Gurdjieff bis hin zu Pärt wagte sich der Improvisationsmeister außerdem auf das Feld des klassischen Repertoires hervor. Und als Sideman kann man Jarrett schließlich noch auf ECM-Alben von Paul Motian ("Concept Vessel"), Kenny Wheeler ("Gnu High") und Gary Peacock ("Tales Of Another") erleben.
Der "Unmöglichkeit seiner Aufgabe" war sich Keith Jarrett in den zurückliegenden fünfzig Jahren sicherlich stets bewusst. Das hat ihn aber nie daran gehindert, unermüdlich zu versuchen, sie trotzdem zu bewältigen. Dass er ein "wirklich wertvoller Künstler" ist, wird bestens durch seine breitgefächerte ECM-Diskographie unterstrichen, die mit bahnbrechenden und historischen Aufnahmen reichlich angefüllt ist.
Seine letzte Solo-Europatournee schloss Keith Jarrett am 16. Juli 2016 in der Münchener Philharmonie mit einem umjubelten Konzert ab. An diesem Abend schienen der Phantasie des großartig improvisierenden Pianisten neue Flügel gewachsen zu sein. Mit der Sicherheit eines erfahrenen Baumeisters erschuf Jarrett aus Formen ad hoc eine Suite, in die er zwischen Stücke von polyrhythmischer und harmonischer Komplexität immer wieder simple Blues-Motive und lyrische, folksongähnliche Elemente einstreute. Der Pianist lieferte an diesem Abend, der auf der nun vorliegenden Doppel-CD "Munich 2016" dokumentiert ist, nach Meinung vieler Beobachter eine seiner allerbesten Darbietungen ab. Das aufmerksame und wertschätzende Publikum folgte gebannt jeder einzelnen Note, jeder Nuance, und wurde im Zugaben Teil mit wunderbar einfühlsamen Interpretationen dreier Jazzstandards belohnt: der Reigen begann mit dem durch Nat King Cole bekannt gewordenen "Answer Me, My Love" des deutsch-österreichischen Songwriter-Gespanns Gerhard Winkler und Fred Rauch, gefolgt von einer geradezu magischen Version des Frank-Sinatra-Klassikers "It’s A Lonesome Old Town" und gipfelte mit Harold Arlens "Somewhere Over The Rainbow" in einer Nummer, die Jarrett seit Jahrzehnten besonders gerne zum Abschluss seiner Solokonzerte (siehe etwa "La Scala", 1995) spielt.
Die Aufnahmen von Jarretts Solokonzerten bilden ein wirklich einzigartiges und sich kontinuierlich weiterentwickelndes Œuvre innerhalb seiner umfangreichen Diskographie. Wenn man der Linie folgt, die der Pianist 1973 mit "Solo Concerts Bremen-Lausanne" begann, begibt man sich auf eine außergewöhnliche musikalische Reise. Zu den Höhepunkten entlang des Weges gehören natürlich "The Köln Concert", die monumentalen "Sun Bear Concerts" (die bald in einer ZEIT-Edition wieder auf Vinyl erscheinen werden), "Concerts" (1981 aufgenommen in Bregenz und München), "Paris Concert", "Vienna Concert", "La Scala", "Radiance", "The Carnegie Hall Concert", "Testament", "Creation", "A Multitude Of Angels", "Rio" und "La Fenice". Mit "Munich 2016" wird die Geschichte nun auf den neuesten Stand gebracht. Durch die außergewöhnliche Intensität, mit der Jarrett dieses "Heimspiel" bestritt (in München ist bekanntlich sein Stammlabel ECM Records zu Hause, das dieses Jahr sein 50-jähriges Jubiläum feiert), geriet diese Performance zu einem der wirklich herausragenden Konzerte des Pianisten.
Die Art, wie Jarrett seine Solokonzerte gestaltet, hat sich im Laufe der Jahre verändert. Die großen, ungebrochenen Improvisationsbögen seiner frühen Auftritte, die sich über ein ganzes Konzert erstreckten, sind seit geraumer Zeit diskreten, sehr fokussierte Spontankompositionen gewichen. Mit seinen improvisierten Solokonzerten setzte Jarrett in den 1970er Standards, denen seitdem immer mehr Pianisten nacheifern. Doch sein Gespür für das Entwickeln von Motiven und Melodien und das Freilegen von Formen in Echtzeit ist schlicht unerreicht. Es gibt immer noch nichts, das einem Solokonzert von Keith Jarrett gleicht. Als der Pianist 2003 mit dem Polar Music Prize ausgezeichnet wurde, schrieb das Komitee in seiner Begründung: "Durch eine Reihe von brillanten Solo-Performances und -Aufnahmen, die seine absolut spontane Kreativität beweisen, hat Keith Jarrett die Klavierimprovisation als Kunstform auf neue, unvorstellbare Höhen geführt."
An diesem Abend schienen der Phantasie des großartig improvisierenden Pianisten neue Flügel gewachsen zu sein. Indem er mit der Sicherheit eines erfahrenen Baumeisters aus Formen ad hoc eine Suite erschuf, in die er zwischen Stücke von polyrhythmischer und harmonischer Komplexität immer wieder simple Blues- und lyrische, folksongähnliche Elemente einstreute, lieferte Keith Jarrett eine seiner allerbesten Darbietungen ab.
Das aufmerksame und wertschätzende Publikum folgte gebannt jeder einzelnen Note, jeder Nuance, und wurde im Zugabenteil mit wunderbar einfühlsamen Interpretationen dreier Jazzstandards belohnt, darunter der Harold-Arlen-Klassiker "Somewhere Over The Rainbow", eine Nummer die Jarrett seit Jahrzehnten besonders gerne zum Abschluss seiner Solokonzerte spielt (siehe etwa "La Scala", 1995), und eine geradezu magische Version von "It’s A Lonesome Old Town". Letztere kann man nun schon ab dem 4. Oktober auf allen Streaming-Plattformen genießen. Ein weiterer Vorab-Track, "Part III" der dreizehnteiligen improvisierten Suite, erscheint dort am 18. Oktober. Das Doppelalbum selbst, das den Titel "Munich 2016" trägt, wird am 1. November bei ECM Records veröffentlicht. Das in München ansässige Label, bei dem Jarrett bereits über 90 Alben veröffentlicht hat, feiert im November seinen 50. Geburtstag.
Das Album brach 1999 in mancher Hinsicht mit der Tradition seiner Vorgänger. Erstens wurde es nicht bei einem Konzert, sondern im Heimstudio des Pianisten in New Jersey aufgenommen. Zweitens geht es hier nicht um Improvisation als kompositorischer Prozess wie bei Jarretts Solokonzerten, sondern um die Interpretation auskomponierter Melodien. Das Repertoire setzt sich aus Love-Songs von Duke Ellington, George und Ira Gershwin, Oscar Hammerstein II, Jerome Kern und Oscar Levant sowie Folkliedern wie "My Wild Irish Rose" und "Shenandoah" zusammen. Es ist also ein Standards-Soloalbum, doch von ganz anderem Charakter als die Aufnahmen von Jarretts häufig so tituliertem "Standards"-Trios mit Gary Peacock und Jack DeJohnette. Dies ermöglicht interessante Vergleiche, da Keith Jarrett die Stücke oft gespielt und manche mit dem Trio auch schon aufgenommen hatte, zum Beispiel "Blame It On My Youth" 1990 für"The Cure" und "Don't Ever Leave Me" 1994 live für "At The Blue Note".
Auf "The Melody At Night, With You" setzt er nicht - wie viele Interpreten von Standards - auf Brillanz und virtuose Fingerfertigkeit. Es geht ihm um die melodische Essenz dieser Songs, ihren emotionalen Gehalt. Einzig bei Ellingtons "I've Got It Bad And That Ain't Good" findet sich eine Solokaskade von perlender Eleganz; sonst herrscht eine eher lyrische Stimmung vor - vielleicht am ehesten vergleichbar mit jenen Momenten am Ende seiner Solokonzerte, wenn Jarrett nach langen Improvisationen als Zugabe noch eine gelöste, ungezwungene Interpretation eines Standards spielt. Jarretts Arbeit mit Standards hat ihn oft auf neue eigene Ideen gebracht, und hier ist es Oscar Levants "Blame It On My Youth", aus dem sich eine "Meditation" genannte Improvisation entwickelt.
Als Keith Jarrett Anfang der achtziger Jahre seine sorgfältige Neuerforschung des "Great American Songbook" begann, betonte er: "Es läuft auf dasselbe hinaus, ob man Samuel Barber oder 'All The Things You Are' spielt. Das Problem ist nicht, dass das eine einfacher und das andere schwieriger wäre. Das Problem ist, wie man hineinfindet. Ist ein Standard gut geschrieben, so ist das die Tür. Doch man geht nicht einfach hinein und setzt sich hin. Man muss den Raum mit Leben füllen." Die Vielfalt der Mittel, mit denen Jarrett diesen Raum neu belebt hat, gehört zu den faszinierendsten Aspekten seiner Interpretationen dieser Songs. Immer wieder macht er uns auf die Struktur dieser Kompositionen aufmerksam und zeigt auf, welche Bedeutungen Melodien (und ihre Texte) erhalten können, wenn sie überzeugend gespielt werden.
"Ich hatte im Dezember 1997 damit begonnen, dieses Album als Weihnachtsgeschenk für meine Frau [Rose Anne, die beiden waren von 1980 bis 2010 verheiratet (Anmerk. d. Verf.)] aufzunehmen", erläuterte Keith Jarrett im November 1999 in einem Interview mit dem Time Magazine. "Ich hatte gerade meinen Hamburger Steinway-Flügel überholen lassen und wollte ihn ausprobieren. Mein Studio liegt direkt neben dem Haus. Wenn ich aufwachte und einen halbwegs anständigen Tag hatte [der Pianist litt damals unter dem chronischen Erschöpfungssyndrom], habe ich das Tonbandgerät angeworfen und für ein paar Minuten gespielt. Mehr war nicht drin, da ich zu erschöpft war. Durch die Platzierung des Mikrophons und die neue Mechanik des Instruments gelang es mir, sehr sanft zu spielen, die innere Dynamik der Melodien, der Lieder besser auszukosten... Es war eines dieser kleinen Wunder, auf das man vorbereitet sein muss, obwohl es teilweise eben auch daran lag, dass ich einfach nicht die Energie hatte, ausgefuchst zu spielen."
Kurz nach seiner Studioaufnahme des ersten Buchs des "Wohltemperierten Klaviers" stellte sich Keith Jarrett 1987 bei einem Konzert erneut der Herausforderung von Bachs Präludien und Fugen.
"Dies sind Darbietungen, bei denen Tempi, Phrasierung, Artikulation und die Ausführung von Ornamenten überzeugen", schrieb Gramophone über Keith Jarretts erste Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers für die ECM New Series. "Sowohl Instrument als auch Interpret dienen als unaufdringliche Medien, durch die die Musik ohne Erhöhung zum Vorschein kommt." In dem Blog "ECM Review" meinte Tyran Grillo: "Was Jarrett zu interessieren scheint, ist, sein Ego so weit wie möglich aus der Gleichung herauszunehmen. Und obwohl man natürlich die Präsenz eines Interpreten nicht ganz verleugnen kann, kann diese Präsenz gleichwohl aufdringlich und übertrieben sein. Doch Jarrett manövriert an der Grenze zwischen Zurückhaltung und Ungezwungenheit und nähert sich der Musik demütig von unten, anstatt sie von oben anzugreifen... Er erlaubt es dem Hörer, sich auf die Musik zu konzentrieren, statt ihre Aufführung zu sezieren. Kurzum: man hört ein einzigartiges Talent, das Musik eines einzigartigen Komponisten spielt."
Im März 1987, nur einen Monat nach der Studioaufnahme des Werkes, stellte sich Keith Jarrett bei einem Auftritt in Troy/New York erneut den Herausforderungen von Bachs Präludien und Fugen. Der Live-Mitschnitt erscheint am 14. Juni auf der Doppel-CD "The Well-Tempered Clavier Book I - Concert Recording". Eines von Jarretts Zielen war dabei, eine Transparenz zu erzielen, die dem Hörer den Komponisten näherbringt. "Schon die Richtung der Linien, die sich bewegenden Linien der Noten, sind von Natur aus expressiv", hatte Jarrett damals erklärt. "Wenn ich Bach spiele, höre ich fast den Denkprozess. Jedwede Färbung hat nichts mit diesem Prozess zu tun." Jetzt kann man auf allen Streaming-Plattformen schon Jarretts Darbietung der überaus bekannten "Prelude No. 1 in C Major BWV 846" hören.
Die Solokonzerte von Keith Jarrett sind für die unzähligen Fans des Pianisten stets etwas ganz Besonderes. Und da bei ihnen fast immer eine Bandmaschine mitläuft, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie eines Tages auch auf einem ECM-Album veröffentlicht werden. Mal dauert dies nur kurze Zeit wie etwa bei den Aufnahmen von "Creation", die 2014 gemacht wurden und schon ein Jahr später erschienen, mal muss man es etwas länger warten wie bei dem jetzt herausgegebenen Doppelalbum "La Fenice", das bereits im Juli 2006 im Gran Teatro La Fenice von Venedig aufgezeichnet wurde. Der Schauplatz - eines der berühmtesten klassischen Konzerthäuser Italiens - wird natürlich unweigerlich Erinnerungen an das vor gut zwanzig Jahren erschienene Album "La Scala" hervorrufen, das immer noch zu den meistgeliebten Soloaufnahmen des Pianisten gehört.
Doch jeder von Jarretts größtenteils improvisierten Soloauftritten ist eine Welt für sich, in der der überaus kreative Pianist unablässig neue Formen ans Licht bringt. Für "La Fenice" ("Der Phoenix") erschuf er aus acht spontan entstandenen Stücken eine inspirierte Suite, in der er alles vom Blues bis zur Atonalität anklingen lässt. Zwischen sechsten und siebten Satz dieser Suite fügt Jarrett dann völlig überraschend eine bewegende Interpretation von "The Sun Whose Rays (Are All Ablaze)" aus Gilbert und Sullivans satirischer Operette "The Mikado" ein.
Als Zugaben spielte Jarrett bei diesem traumhaften Konzert den irischen Traditional "My Wild Irish Rose" (den er zuvor schon für "The Melody At Night With You" aufgenommen hatte) und den zeitlosen Standard "Stella By Starlight", den er oft im Trio mit Gary Peacock und Jack DeJohnette aufgriff (nachzuhören etwa auf den Alben "Standards Live" und "Yesterdays"). Das Konzert beendete Jarrett mit dem wunderbaren Stück "Blossom", das er ursprünglich 1974 mit Jan Garbarek, Palle Danielsson und Jon Christensen für das Album "Belonging" aufgenommen hatte.
"La Fenice" kann man als krönenden Abschluss einer Reihe von Solokonzerten betrachten, die Jarrett im September 2005 mit einem Auftritt in der Carnegie Hall begonnen hatte. In dem HiFi-Magazin Audio schrieb Matthias Inhoffen damals über das Album: "Das New Yorker ‘Carnegie Hall Concert’ geriet ihm zum Triumph, wie nicht nur die Beifallsbekundungen auf der CD ahnen lassen. Jarrett hat sich solo am Flügel vom Druck des Improvisierens über allzu große Zeitspannen befreit; er wirkt gelöst, konzentriert und sprüht nur so vor Ideen. In einer Art Suite aus zweimal fünf Sätzen plus fünf Zugaben zaubert er die Erdnähe des Blues ebenso aus den Tasten wie die lyrische Delikatesse einer Ballade, und selbst in hektisch-virtuosen Kunststücken fesselt er den Hörer mit Vitalität und Formbewusstsein. Eine Sternstunde in großartig präsentem Live-Klang."
Die Veröffentlichung des Venedig-Konzerts erfolgt zu einem sehr treffenden Zeitpunkt. Denn 2018 wurde der Pianist als erster Jazzmusiker überhaupt beim 62. Internationalen Festival für zeitgenössische Musik der Biennale di Venezia mit einem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Zu den bisherigen Preisträgern gehören u.a. zeitgenössische Komponisten wie Luciano Berio, Pierre Boulez, György Kurtág, Helmut Lachenmann, Sofia Gubaidulina und Steve Reich. Dass er selbst auch ein zeitgenössischer Komponist ist, demonstriert Keith Jarrett einmal mehr sehr anschaulich auf "La Fenice", wo er seine musikalischen Strukturen durch das Medium der Improvisation in Echtzeit gestaltet.
Im Juli 2006 gab Keith Jarrett eine mitreißende Solo-Performance im Gran Teatro La Fenice von Venedig. In diesem Jahr wird der Pianist als erster Jazzmusiker beim 62. Internationalen Festival für zeitgenössische Musik der Biennale di Venezia mit einem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Aus diesem Anlass erscheint am 19. Oktober bei ECM unter dem Titel "La Fenice" eine Doppel-CD mit einem über 100-minütigen Mitschnitt des eingangs erwähnten Konzerts. Das Album kann man allerdings schon ab dem 21. September vorbestellen und wird dafür sofort mit dem Gratis-Track "The Sun Whose Rays" belohnt.
Die Festival-Jury begründete ihre Entscheidung mit den folgenden Worten:
"Keith Jarrett, der einhellig als einer der bedeutendsten Pianisten im Bereich der Improvisation und Jazzmusik gefeiert wird, ist ein Künstler, der mit außerordentlichem Talent und ebensolcher Kreativität in verschiedenen musikalischen Genres, einschließlich der klassischen Musik, experimentiert hat und dabei Kompositionen schuf, die raffiniert und gleichzeitig intensiv sind. Seine schier endlose Diskographie zeugt von einer grenzenlosen Kunst und einer einzigartigen Persönlichkeit im Bereich des Jazz. Seine Herangehensweise und sein unverwechselbarer Stil sind so persönlich, dass sie ihn zu einem universellen Meister in der Geschichte der Musik machen."
Bei seinen Solo-Konzerten erweist sich Jarrett natürlich auch als zeitgenössischer Komponist, der durch das Medium der Improvisation immer wieder neue Formen enthüllt. Wie auf dem bereits 1997 erschienenen Meilenstein "La Scala" (der 1995 in dem weltbekannten Mailänder Opernhaus aufgezeichnet wurde) dokumentiert "La Fenice" einen Auftritt des Pianisten in einem der heiligen Konzertsäle der klassischen Musik.
Jarrett kanalisiert hier den Fluss seiner Inspiration, um etwas Neues zu erschaffen. In diesem Fall eine Suite aus acht spontan erstellten Stücken, die alles vom Blues bis zur Atonalität referenzieren. Zwischen Teil VI und Teil VII wechselt Jarrett überraschend, aber anrührend zu "The Sun Whose Rays (Are All Ablaze)", aus Gilbert und Sullivans satirischer Operette "The Mikado".
Als Zugaben spielte Jarrett bei diesem traumhaften Konzert den irischen Traditional "My Wild Irish Rose" (den er zuvor schon für "The Melody At Night With You" aufgenommen hatte), den Standard "Stella By Starlight" und das wunderbare Stück "Blossom", das erstmals auf dem Album "Belonging" zu hören war.
Im Laufe ihrer rund dreißig Jahre umspannenden gemeinsamen Geschichte haben Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack DeJohnette - allgemein bekannt als "das Standards-Trio" - viele herausragende Aufnahmen gemacht. Und das Doppelalbum "After The Fall", das vor begeisternden Darbietungen und dynamischen Interaktionen geradezu übersprudelt, muss man sicherlich zu den allerbesten Einspielungen des Trios zählen. Auf der Jazz-Website All About Jazz gab Karl Ackermann dem Album die Höchstwertung von fünf Sternen und kam zu dem Schluss: "After The Fall" erinnert einen noch einmal daran, dass - und wie - das heute nicht mehr existierende Ensemble das Klaviertrio neu definiert hat. Ein exzellentes und sehr empfehlenswertes Album."
"Ich war erstaunt zu hören, wie gut die Musik funktioniert", sagt Keith Jarrett selbst. "Für mich ist es nicht nur ein historisches Dokument, sondern ein wirklich großartiges Konzert." Diese im November 1998 in Newark/New Jersey mitgeschnittene Aufführung markierte Jarretts Rückkehr auf die Bühne nach einer zweijährigen Pause. Tatsächlich war dieses Konzert das erste, das Jarrett seit den italienischen Soloauftritten von 1996 gespielt hatte, die 2016 unter dem Titel "A Multitude of Angels" herausgekommen sind. In der Diskographie des Trios reiht es sich chronologisch vor der Aufnahme von "Whisper Not" ein, die im Sommer 1999 aufgezeichnet wurde, und ist somit der Vorbote der bemerkenswerten zweiten Periode dieses Trios, in der es neue Freiheiten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Welt der Jazzstandards zu finden schien.
"Wir machen uns keine Gedanken um Konzepte, Theorien oder Imagepflege", verriet Gary Peacock der Jazz Times vor einigen Jahren. "Das ist alles völlig unwichtig. Was bleibt, ist also: alles. Es lässt die Musik übrig.
Wenn du einmal an einem Punkt angelangt bist, an dem du nicht mehr das Gefühl hast, eine Erklärung abgeben zu müssen, betrittst du einen Raum von enormer Freiheit."
Mit seinen Improvisationspartnern Peacock und DeJohnette gleitet und segelt Jarrett durch die Klassiker des "Great American Songbook", darunter "The Masquerade Is Over", "Autumn Leaves", "When I Fall In Love" und "I’ll See You Again"; gemeinsam kreieren sie ihre eigene Musik im Rahmen dieser familiären Formen. Pete La Rocas "One For Majid", das im 21. Jahrhundert zu einem festen Bestandteil des Konzert-Repertoires des Trios werden sollte, wird spritzig interpretiert und bereitet den Boden für eine überraschend ausgelassene, groovende Version von "Santa Claus Is Coming To Town", eine alte Kamelle, die früher auch schon Paul Bley und Bill Evans inspiriert hatte. Dem lebhaften Weihnachtslied wiederum folgt mit "Moment’s Notice" eine für Jarrett seltene Auseinandersetzung mit einem Coltrane-Thema, bei der das Trio neue energetische Höhen erreicht.
Es gibt auch atemberaubende Interpretationen von geheiligten Bebop-Nummern wie Charlie Parkers "Scrapple From The Apple", Bud Powells "Bouncin’ With Bud" und Sonny Rollins' ’"Doxy". Besonders berauschend ist die Version von "Scrapple From The Apple". Die Noten perlen hier in schwindelerregender Weise aus Jarretts rechter Hand, während DeJohnette sie magisch auf seinen Becken akzentuiert, bevor das Stück in einen rasanten Austausch zwischen Klavier und Schlagzeug mündet. In seinem Begleittext äußert sich Jarrett zur Auswahl des Materials für dieses "experimentelle" Comeback-Konzert: "Ich sagte den Jungs im Trio, dass Bebop zu spielen für mich die beste Idee sein könnte, obwohl das eine großartige Technik erforderte. Ich hatte nicht erwartet, dass ich so hart spielen müsste, wie ich es manchmal tat..."
Balladen werden ebenfalls mit sehr viel Einfühlungsveremögen gespielt.
Paul Desmonds "Late Lament" gerät zu einer tiefgründigen Meditation, wobei Gary Peacock Jarretts asketische Ausweitung der Melodie wunderbar untermalt. "When I Fall In Love", von dem Trio oft als Zugabe gespielt, klingt hier so bewegend wie eh und je.
"Diese Songs besitzen eine Seele, die man finden kann", meinte Keith Jarrett einmal. Und dass das Trio diese Seele auf "After The Fall" wiederholt gefunden hat, ist wirklich unbestreitbar.
Mit den 1973 auf drei LPs veröffentlichten "Solo Concerts Bremen/Lausanne" schlug Keith Jarrett ein völlig neues Kapitel in der Jazzgeschichte auf. Nie zuvor hatte ein Pianist es gewagt, so ungebunden und ohne Pausen einzulegen über einen ganzen Konzertabend hinweg zu improvisieren. "Diese Marathone bewiesen, dass Jarrett einer der größten Improvisatoren des Jazz ist2, meinte der britische Trompeter und Jazzjournalist Ian Carr später. "Er verfügt offensichtlich über einen unerschöpflichen Fluss rhythmischer und melodischer Ideen, eine der brillantesten pianistischen Techniken überhaupt und die Fähigkeit, komplexe und profunde Gefühle zu artikulieren." In den folgenden zwanzig Jahren wurden noch etliche Solokonzerte für atemberaubende Alben wie "Sun Bear Concerts", "Paris Concert", "Vienna Concert" und natürlich das legendäre "Köln Concert" aufgezeichnet. Das letzte dieser Solokonzerte war 1995 imTeatro alla Scala in Mailand aufgenommen worden und erschien zwei Jahre später unter dem Titel "La Scala". Im darauffolgenden Jahr kehrte Jarrett aber noch einmal nach Italien zurück, um im Oktober 1996 vier weitere Soloauftritte in Modena, Ferrara, Turin und Genua zu absolvieren. Nicht bekannt war, dass er diese damals selbst auf seinem DAT-Rekorder mitschnitt. Nun, zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung, erscheinen die Aufnahmen, die ein immens wichtiges Kapitel in der Karriere des Pianisten abschlossen, endlich in der vier CDs umfassenden Box "A Multitude of Angels". Der Pianist selbst bezeichnet diese Konzerte, die unter erdenklich günstigen Rahmenbedingungen stattfanden, als "Höhepunkte in meiner Karriere".
"Der Jazz ist hier stets präsent", sagt Keith Jarrett über die Musik von "A Multitude Of Angels", "aber man spürt auch meine große Nähe zur klassischen Musik (moderner und alter, Ives und Bach)." Der Bogen der Musik war bei jedem dieser vier italienischen Konzerte besonders weit gespannt. "Ich konnte die Energie spirituell spüren, fühlte mich manchmal wie in einer Baptistenkirche, manchmal wie in einer Moschee, oder in Irland, Spanien oder Afrika.... Natürlich ging mir nichts von all dem durch den Kopf, während ich spielte. Denn ich spielte, als ob es für mich das letzte Mal war." In gewissem Sinne war es das in dieser Form auch. Denn mit diesen Konzerten beendete Jarrett den Zyklus seiner ungezügelten, frei fließenden, weit ausholenden Improvisationen. "Dies waren die letzten Konzerte, bei denen ich jedes Programm ohne Pausen spielte", erklärt der Pianist in seinen Anmerkungen zu "A Multitude of Angels".
Nach diesen Konzerten sollten mehr als zwei Jahre verstreichen, bevor Jarrett wieder in der Öffentlichkeit auftrat. In seinem Heimstudio nahm er 1997 noch solo "The Melody At Night With You" auf, eine Meditation über die Reinheit der Melodie. Zur Bühne kehrte erst Ende 1998 mit seinem "Standards"-Trio mit Gary Peacock und Jack DeJohnette zurück. Nach und nach nahm er dann auch wieder Solokonzerte in seinen Terminkalender auf. Die ersten, 2002 in Japan mitgeschnitten, wurden 2005 auf der Doppel-CD "Radiance" veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte Jarrett bereits sein Spielformat geändert: denn auf dem Programm standen bei ihm nun Abfolgen von improvisierten, kürzeren "Stücken".
Mit den Konzerten, die jetzt in der Box "A Multitude Of Angels" vorgelegt werden, schloss Jarrett ein ungemein wichtiges Kapitel seiner Karriere ab. Über seine frühen Solokonzerte meinte der Pianist einmal: "Wenn ich reine Improvisationen spiele, steht jegliche Art von intellektuellen oder emotionalen Haltegriffen dem freien Fluss der Musik im Weg." Die jetzt neu erscheinenden Aufnahmen, die Jarrett damals selbst mit einem DAT-Rekorder aufzeichnete, erlauben dem aufführenden Künstler und dem Hörer wieder in den Fluss hineinzufinden. "Ich kann nur hoffen, dass jeder Hörer dasselbe außerordentliche Erlebnis hat wie ich es verspürte, als ich die Musik wiederentdeckte."
Als Keith Jarrett 1997 verkündete, dass er wohl auf unabsehbare Zeit keine Solokonzerte mehr geben würde, sendete die Nachricht Schockwellen durch die Musikwelt. Denn Jarrett galt als der Inbegriff des improvisierenden Solokünstlers, der aus dem Stegreif und ohne Vorgaben einen ganzen Konzertabend bestreiten konnte. Auf dem Album "La Scala", zwei Jahre zuvor in der Mailänder Scala live mitgeschnitten, hatte er dies gerade erst erneut bewiesen. Doch die Auswirkungen der chronischen Erschöpfung, an der Jarrett litt, zwangen den Pianisten dazu, seine künstlerischen Tätigkeiten weitgehend einzuschränken. Erst 2002 meldete er sich als Solist wieder auf der Bühne zurück. Mit Konzerten in Japan, die von ECM auf der Doppel-CD "Radiance" und der DVD "Tokyo Solo" dokumentiert wurden und auf denen er sein neues Improvisationskonzept vorstellte.
Jetzt gibt Jarretts Münchener Stammlabel eine Box mit vier CDs heraus, die noch vor der ungewollten Auszeit entstanden. Versammelt sind in der Box Aufnahmen von vier italienischen Konzerten, die Jarrett vor genau 20 Jahren im Oktober 1996 in Modena, Ferrara, Turin und Genua gegeben hatte. Jedes der Konzerte bestand aus jeweils zwei komplett improvisierten Solo-Sets und Zugaben. Es waren tatsächlich die letzten Auftritte, bei denen der Pianist seiner überbordenden Improvisations-Phantasie ungezügelt freien Lauf ließ. "Das waren die letzten Konzerte, bei denen ich jedes Set ohne Unterbrechungen spielte", schreibt Jarrett im Begleitext zur Box. "Der Bogen der Musik ist besonders weitgespannt: der Jazz ist hier stets präsent, aber man spürt auch meine große Nähe zur klassischen Musik (moderner und alter, Ives und Bach)." Erscheinen wird die Box mit dem Titel "A Multitude Of Angels" am 04. November bei ECM Records.
Es gibt wohl nur wenige Menschen außerhalb des Zirkels der Musiker, die mit ihm spielen, die den Pianisten Keith Jarrett so gut kennen wie der Musikjournalist Wolfgang Sandner und Jarretts langjähriger Produzent Manfred Eicher. Anlässlich einer Lesung aus Sandners kurz zuvor veröffentlichter Jarrett-Biographie ("Keith Jarrett - Eine Biographie", Rowohlt, Berlin) trafen sich die beiden am 22. Juli in der KlassikJazzLounge im Saturn München Theresienhöhe, um sich über den Künstler und die beiden neuen Alben zu unterhalten, die zu seinem 70. Geburstag am 8. Mai erschienen waren: das improvisierte Soloalbum "Creations" und das klassische Album "Samuel Barber/Béla Bartók". Das Gespräch zwischen Sandner und Eicher eröffnete einem ungewohnte Einblicke in das Schaffen und Leben Jarretts. Einen Ausschnitt aus dieser hochinteressanten Unterhaltung kann man nun auf YouTube sehen.